: Kinkel-Initiative nimmt erste Hürde
■ Mit der Haftentlassung des früheren RAF-Mitglieds Sonnenberg verbessern sich die Chancen für Kinkels Initiative zur Freilassung weiterer RAF-Gefangener
Kinkel-Initiative nimmt erste Hürde Mit der Haftentlassung des früheren RAF-Mitglieds Sonnenberg verbessern sich die Chancen für Kinkels Initiative zur Freilassung weiterer RAF-Gefangener
Als „tragbares Restrisiko“ bezeichnete der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichtes Stuttgart die Möglichkeit, daß Günter Sonnenberg wieder zur Waffe greifen könnte — und stimmte deshalb seiner Entlassung aus dem Knast zu. 15 Jahre hatte Günter Sonnenberg am 2.Mai dieses Jahres abgesessen, entweder im Haftkrankenhaus Hohenasperg oder in Einzelhaft in Bruchsal. 15 Jahre Haft als schwerkranker Mann. Nicht nur RAF-Symphatisanten sagten von ihm, daß er eigentlich nie haftfähig war. Sonnenberg hat eine schwere Hirnverletzung: Mit vier Splittern einer Revolverkugel im Kopf, leidet er unter epileptischen Anfällen und starken Konzentrations- und Gedächtnisstörungen.
Die Verletzung stammt vom 3.Mai 1977. An diesem Tag wird er in Singen in Baden-Württemberg zusammen mit Verena Becker aufgrund eines Hinweises einer Passantin von der Polizei gestellt. Beide versuchen sich ihren Fluchtweg freizuschießen, verletzen dabei zwei Polizeibeamte schwer. Schließlich werden sie auf einem Acker bei Singen festgenommen, Sonnenberg mit einem Steckschuß im Hinterkopf.
Aufgrund dieser Verletzung waren Prozeß und Haft Günter Sonnenbergs immer besonders umstritten. Vor dem Prozeßbeginn in Stuttgart- Stammheim im März 1978 hatte die zuständige Kammer solange einen Gutachter nach dem anderen beauftragt, bis sie einen Mediziner fanden, der den Angeklagten wenigstens für „bedingt verhandlungsfähig“ hielt. Zweimal in der Woche für drei Stunden, so befand das Gericht damals, sei Sonnenberg fähig, der Verhandlung zu folgen. Eine Gehirn-Computer-Tomographie, die sein Verteidiger Phillip Heinisch aus Berlin beantragt hatte, lehnte das Gericht mit der lapidaren Begründung ab, auch dies könne über die „Verhandlungsfähigkeit keinen Aufschluß“ geben. Wie sehr dieser Prozeß über die Strafprozeßordnung hinweg verbrochen wurde, belegt ein Zitat der wahrlich nicht der RAF-Symphatie verdächtigen Springer-Zeitung 'Hamburger Abendblatt‘: „Heute (am Tag des Prozeßbeginns d.Red.) ist der Mann nur noch ein Schatten seiner selbst. Der hochintelligente Gymnasiast von einst kann nur noch einfachste Zusammenhänge begreifen. So kann man sich in rechtlicher Hinsicht eines Unbehagens nicht erwehren, wenn Sonnenberg schon jetzt zur Rechenschaft gezogen wird. Seine Verteidigungs- und Sühnefähigkeit ist in diesem Zustand höchst zweifelhaft.“
Sonnenberg galt als Mitglied der sogenannten zweiten Generation der RAF. Als Student lernte er in Heidelberg Christian Klar und Knut Folkerts kennen und ging mit ihnen zusammen in den Untergrund. Er wurde lange verdächtigt, am Attentat auf Generalbundesanwalt Buback beteiligt gewesen zu sein. Wegen seines Gesundheitszustandes verzichtete die Bundesanwaltschaft jedoch auf eine Anklage in dieser Sache.
Seit der damals 23jährige 1978 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, wird von Unterstützergruppen für die politischen Gefangenen, aber auch Organisationen wie amnesty international die Freilassung Sonnenbergs wegen Haftunfähigkeit gefordert. Die Kommandoebene der RAF machte mit ihrer Erklärung vom April dieses Jahres die Entlassung Günter Sonnenbergs zu einer der wesentlichen Voraussetzungen für ihren Verzicht auf weitere Anschläge. Am 6.Mai beantragte dann Generalbundesanwalt von Stahl beim Oberlandesgericht in Stuttgart, die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. Als Begründung führte von Stahl an, Sonnenberg habe vorbehaltlos erklärt, sich nach seiner Entlassung nicht mehr an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligen zu wollen sowie überhaupt auf Gewalt zur Durchsetzung seiner politischen Ziele zu verzichten. Im übrigen habe Günter Sonnenberg dem Moratorium der RAF zugestimmt.
Der 5. Senat des OLG schloß sich dieser Begründung nun im wesentlichen an. Der inzwischen 37jährige Sonnenberg sei zwar weiterhin „ideologisch auf die RAF und ihre Ziele fixiert“, teile aber die Einschätzung der RAF-Erklärung, nach der ihre bisherige Politik der Attentate „gescheitert sei“. „Hinzu komme, daß die Gefahr, der Verurteilte werde künftig Straftaten begehen, auch durch seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen gemindert erscheine“. Aufgrund dieser Erwägungen hat der Senat die Strafe auf Bewährung ausgesetzt und eine Bewährungszeit von fünf Jahren festgesetzt. Sonnenberg wird in dieser Zeit der Aufsicht eines Bewährungshelfers unterstellt.
Am 18.Februar hatte Günter Sonnenberg in einer persönlichen Erklärung bereits vorweggenommen, was ihm nach einer möglichen Entlassung am dringlichsten ist: „Ich muß feststellen, was ich — aufgrund der Schußverletzung und 15 Jahren Knastbedingungen — verloren, vergessen und verlernt habe.“ Jürgen Gottschlich
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