Radioaktive Strahlen unter dem Kochtopf

■ Fernsehautor: Sowjetunion lieferte 20 Jahre lang verstrahltes Erdgas/ Energiewirtschaft widerspricht/ Bonn: Strahlenbelastung unbedenklich

Berlin. Das Erdgas, das die ehemalige Sowjetunion seit 1973 in die DDR und nach Ost-Berlin lieferte, soll bis 1991 erheblich mit dem radioaktiven Edelgas Krypton 85 belastet gewesen sein. Dies ist das Ergebnis einer Recherche des Fernsehautors Detlef Cordts.

Den Verdacht, daß sowjetisches Gas radioaktiv strahlt, gibt es schon länger. Denn die UdSSR hatte bis vor vier Jahren mit Hilfe von Atombomben Seen und Kanäle »angelegt«, Flußläufe verändert und die Rohstofförderung beschleunigt. Im Ural seien mit 18 Atomsprengköpfen, nördlich des Kaspischen Meeres mit 36 Atombomben Gasspeicher herbeigebombt worden, berichtete im vergangenen Jahr ein amerikanischer Journalist.

Ost-Berlin bezieht seit Anfang der siebziger Jahre den fossilen Brennstoff. West-Berlin begann im April vergangenen Jahres, sein Leitungsnetz von Stadt- auf Erdgas umzustellen. Seitdem wird in Neukölln mit Gas aus der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) gekocht und geheizt. Das Netz soll in den westlichen Bezirken bis zum Jahr 2000 umgestellt werden. Mit der »Sojuzgazexport« ist für West-Berlin eine Erdgasmenge von 700 Millionen Kubikmetern jährlich vereinbart. Nach Angaben des Bundesverbandes der Gas- und Wasserwirtschaft bezogen die Altbundesländer 1991 21,7 Milliarden Kubikmeter, die fünf neuen Länder 4,8 Milliarden Kubikmeter UdSSR-Gas — ein Drittel des gesamten Erdgasverbrauchs.

Cordts will jetzt ein erstes Indiz dafür gefunden haben, daß an Gasherden und -heizungen nicht nur Methan ankam, sondern auch Krypton 85. Von 1973 bis 1991 sollen bei einem Freiburger Institut Geigerzähler ausgeschlagen haben, wenn sie mit Hilfe von Erdgas geeicht wurden. Freiburg beziehe das Sowjet- Gas, das aber mit westlichem Erdgas »sehr stark« verdünnt werde, so Cordts. Die Freiburger hätten sich das Auftreten des Kryptons nie erklären können. In Berlin soll das sowjetische Gas nahezu unverdünnt verwendet werden, so Cordts. Wie stark die Strahlung war, sei nicht mehr festzustellen. Er schätze den Wert auf zeitweise mehrere 10.000 Becquerel pro Kubikmeter Brennstoff — und zwar immer dann, wenn die Sowjets neue unterirdische Gasglocken herbeigebombt hatten. Die internationale Atomenergiebehörde in Wien habe seit 1970 von den Sprengungen gewußt. »Es ist ein Skandal, daß das Gas nie auf Radioaktivität gemessen worden ist«, wirft Cordts deutschen Behörden vor.

Der Bundesverband der Gaswirtschaft widerspricht der These des Fernsehautors. Das Krypton im Freiburger Institut stamme nicht aus dem Importgas, sondern sei in der Natur vorhanden. Bei einer Radioaktivitätsmessung im Herbst vergangenen Jahres habe man »nur ganz wenig Strahlung« feststellen können, berichtet Günter Weimer, Strahlenschützer beim Bundesumweltministerium. Die Werte hätten im Bereich der Nachweisgrenze gelegen, die geringe gesundheitliche Belastung könne vernachlässigt werden. Eine Stellungnahme der Westberliner Gasag und Ostberliner Erdgas AG war am Wochenende nicht zu erhalten. Dirk Wildt