Eine gewisse Obsession für Selbstzitate

■ Zur Uraufführung von Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ in Wien

Der Rest ist Schweigen — Hamlets letzte Worte sind schwer vor Bedeutung, gleichzeitig lakonisch wie so mancher Satz Wittgensteins (dessen Lakonismus oft selbst bedeutungsschwer ist): „Wie auch beim Tod die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört.“

Natürlich ist dies eine Frage der Perspektive. Für die Lebenden hört nichts auf, aber verändert der Tod eines anderen irgendetwas? Gerade daß sich nichts ändert, wird von den Hinterbliebenen oft als schmerzhafte Empfindung ausgegeben. Für den Zuschauer, der Zeuge eines tödlichen Unfalls geworden ist, wird der Vorfall zur Erinnerung und möglicherweise zur Erkenntnis einer doppelten Vergänglichkeit: Tod und Vergessen. „Wenn einer tot umfällt auf dem Platz, wird er abtransportiert, dann kommen andere und wissen gar nicht, was gerade war. Aber ich als Zuschauer hab's gesehen.“

Dieses Erlebnis wurde für Peter Handke, wie er in einem Interview für die Zeitschrift 'Bühne‘ erklärte, zum Ausgangspunkt seines neuesten Schauspiels Die Stunde da wir nichts voneinander wußten.

Thomas Thieme als einer von 30 Schauspielern, die über 200 Episodenfiguren darstellen und ebenso viele Kostüme von Tobias Hoheisel spazieren tragen, spielt diese von Handke eher ausführlich — im Vergleich etwa zur Anweisung: „Einer geht mit einem Baum vorbei“ — beschriebene Szene mit theatralischem Aufwand. In solchen Szenen wird dieses Stück vom Kommen und Gehen zu einer stummen Oper des Auf- und Abtretens, in der jeder Schauspieler die kurze Zeit, die ihm dazwischen verbleibt, auskostet. Doch Claus Peymann hat diese Berufskrankheit, die der Bedeutungsmanie von Schriftstellern entspricht, durchaus im Sinne des Dichters immer wieder durchgehen lassen. Denn Handkes Sehnsucht nach dem Selbstverständlichen, das nicht bedeutungsvoll einherschreitet, ist bei ihm bis heute uneingelöster Anspruch geblieben. „Es gibt unendlich viele kleine Geschichten...“ — wie fatal widerspricht dem die Szene, in der eine Gruppe im Wintergewand einer in Sommerkleidern begegnet; und schon fährt ein Leichenwagen vorbei, „worauf zwischen den beiden Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

Gruppen ohne Umstände ein kleiner, wie lange vorbereiteter Kleider- und Sachentausch stattfindet.“

Doch damit nicht genug. Moses mit den Gesetzestafeln, Abraham mit Opfermesser und Isaak, Papageno, Peer Gynt und Chaplin treten auf; und dies ja nicht bloß als mythische, historische und literarische Figuren, sondern naturgesetzmäßig als Inbegriff von Mythos, Geschichte, Literatur.

Und dann findet das Kommen und Gehen vorläufig sein Ende, das Schauspiel strebt seinem Höhepunkt zu: „Ein jeder stoppt, hört zugleich auf, tätig zu sein, steht, sitzt, lagert.“ Hier hebt in Handkes sprachlosem Platz-Drama ein nonverbales Geschwätz an, das nicht einmal den Toten ihre Ruhe gönnt: „eine bei ihrem ersten Schritt ins Licht als von den Toten Auferstandene“. Jetzt erst beginnt das Theater so richtig, wie auch bei der Auferstehung die Welt aufhört aufzuhören. Der von Karl-Ernst Herrmann mit fensterlosen, schmal- hohen Hausfassaden umkreiste Platz mit sieben Gassen, deren mittlere einen engen Ausblick aufs Meer ermöglicht, wird endgültig zum Gleichnis — zum Gleichnis fürs Leben, das ein Hin und Her ist, aber auch ein von Dichters Gnaden festgehaltenes Verweilen. Die vorher manchmal aufblitzende Beiläufigkeit wird nun zur sinnigen und innigen Beliebigkeit.

Der Rest ist kein Schweigen. Dafür kann jede auf metaphorischen Gewinn ausgerichtete Interpretation verstummen, so pathetisch-dick trägt sich die Metaphorik in Die Stunde da wir nichts voneinander wußten ein: „Eine tritt an ihn heran, mit einem Bündel als Neugeborenem, und legt das dem Greis in die sich ausstreckenden Arme, und dieser, den Blick darauf, den Blick in die Höhe, bricht in ein Jauchzen und Jubeln aus, ohne Worte, stammelnd und schmetternd.“

Claus Peymann, dem in Wien aus unerfindlichen Gründen der Ruf, ein Vertreter des Regietheaters zu sein, nacheilt, erweist sich wieder einmal als treuer Diener eines Dichterfürsten. So unterschiedlich ihr Naturell auch immer sein mag, so teilen sie doch die Obsession für Selbstzitate und die Anspielungen, die sie einander elegant zuspielen. Die Figur mit einem Kanalarbeiterhelm, die „aus der Tiefe“ erscheint, eröffnet Peymann die Möglichkeit jenes Loches, das sich bei ihm von RichardIII. bis zu Macbeth noch in fast jedem Bühnenboden aufgetan hat. Der Apfel wiederum, den ein „junger Macher“ auspackt, ist auch der Apfel aus Handkes vor mehr als 20 Jahren geschriebenem und ebenfalls von Peymann uraufgeführtem Stummstücks Das Mündel will Vormund sein. Und damit sich die Katze, die im Mündel noch „tut, was sie tut“, auch wirklich metaphorisch in den Schwanz beißt, tritt einer auf, „der den Platz, als Modell verkleinert, vor sich herträgt“. Dies nützte Peymann wiederum geschickt, um den Dritten im Bunde, Karl-Ernst Herrmann, ins Spiel zu bringen. Roman Kaminski, der das Modell der Bühne auf die Bühne bingt, tritt im Kostüm des Bühnenbildners Herrmann auf.

In einer Episode, die jener Sterbeszene, die der Ausgangspunkt für Handkes Stunde gewesen ist, unmittelbar voraus geht, hat sich der Dichter übrigens selbst verewigt: „Und eine Schönheit wiederum, welche zunächst nur von hinten sichtbar, sich plötzlich nach mir! umdreht.“ Doch entweder hat sich Peymann die Pointe, einen Schauspieler als Handke auftreten zu lassen, verkniffen, oder aber die Aufführung erreichte an dieser Stelle jene Beiläufigkeit, die allein diese Stunde erträglich machen würde und die mich das Wesentliche übersehen ließ. Dieter Bandhauer

Peter Handke: Die Stunde da wir nichts voneinander wußten. Burgtheater (im Theater an der Wien). Regie: Claus Peymann, Bühne: Karl Ernst Herrmann, Kostüme: Tobias Hoheisel.