Rechenschaft nach 50 Jahren

■ Lebenslänglich oder Freispruch mit diesen beiden Möglichkeiten läßt sich das juristische Dilemma des vermutlich letzten großen NS-Verfahrens, das heute in Stuttgart mit der Urteilsverkündung gegen ...

Rechenschaft nach 50 Jahren Lebenslänglich oder Freispruch — mit diesen beiden Möglichkeiten läßt sich das juristische Dilemma des vermutlich letzten großen NS-Verfahrens, das heute in Stuttgart mit der Urteilsverkündung gegen Josef Schwammberger zu Ende geht, benennen.

Wer nach mehr als elf Monaten Hauptverhandlung im Stuttgarter NS-Prozeß am 67. Verhandlungstag noch mit einer Überraschung gerechnet hatte, wurde von der Hauptperson des Verfahrens enttäuscht. Der 80jährige frühere SS-Oberscharführer Josef Schwammberger trug mit dem letzten Wort, das ihm als Angeklagtem zusteht, nichts mehr zur Aufklärung der ihm vorgeworfenen Verbrechen bei: „Ich schließe mich meinen beiden Verteidigern an. Ich bedaure sehr das Schicksal dieser Opfer durch die Besatzung im allgemeinen.“ Somit muß die Neunte Strafkammer des Landgerichts entscheiden, ob ein Schuldnachweis, der weitgehend auf Zeugenaussagen beruht, noch mit der vom Strafrecht geforderten Sicherheit möglich ist, wenn zwischen den Taten und ihrer gerichtlichen Verfolgung ein halbes Jahrhundert liegt.

Wenn das Gericht heute sein Urteil verkündet, wird es nach Einschätzung vieler Prozeßbeobachter wohl „lebenslänglich“ lauten. Schon wenige Wochen nach Prozeßbeginn hatte Pflichtverteidiger Achim Bächle mit den Worten, „eigentlich hat das Gericht nur zwei Möglichkeiten: Lebenslänglich oder Freispruch“, das juristische Dilemma dieses vermutlich letzten großen NS- Verfahrens beschrieben. Auch der zweite Pflichtverteidiger, Dieter König, schloß sein Plädoyer mit der sibyllinischen Bemerkung: „Ich kann nicht sagen, der Angeklagte hätte die Taten nicht begangen.“ Aber auch im Fall des früheren Lagerkommandanten müsse gelten: im Zweifel für den Angeklagten.

Den Pflichtverteidigern genügen die Aussagen von rund 40 Zeugen vor Gericht und von mehr als 50 Überlebenden des Holocaust bei Vernehmungen im Ausland als einzige Beweismittel nicht, um den 80jährigen der ihm angelasteten Mordtaten zu überführen. Dagegen hielt es Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm in seinem Schlußplädoyer auf Grund der Zeugnisse des NS- Terrors in den von Schwammberger geleiteten Zwangsarbeitslagern Rozwadow und Przemysl für erwiesen, daß der SS-Mann 34 jüdische Gefangene teils grausam und aus Rassenhaß ermordete. In mehr als 200 Fällen habe er zudem auf Anordnung vorgesetzter Dienststellen Lagerinsassen getötet und damit Beihilfe zum Mord geleistet. In sich oder untereinander widersprüchliche Aussagen einzelner Zeugen, die während der vergangenen 30 Jahre zum Teil mehrmals vernommen worden waren, erhöhen nach Schrimms Überzeugung sogar deren Glaubwürdigkeit.

Die Pflichtverteidiger hingegen wiesen darauf hin, daß über ein und denselben Vorgang sechs Zeugen mitunter sechs verschiedene Darstellungen abgaben — die nicht nur in Details, sondern auch in wesentlichen Kernbereichen voneinander abwichen. Allein im Fall des im Jahr 1943 im Ghetto von Przemysl getöteten Juden Leo Pater geht Anwalt König davon aus, „daß Schwammberger schoß“. Aber auch hier sei der Tathergang nicht eindeutig zu klären. So hätten einzelne Zeugen von einem tätlichen Angriff Paters auf Schwammberger berichtet. Mithin sei also auch Totschlag möglich, der wiederum verjährt wäre. In einigen von der Anklage als Beihilfe zum Mord bewerteten Fällen hielt Verteidiger Bächle allenfalls den ebenfalls verjährten Straftatbestand der Beihilfe zum Totschlag für möglich. Davon ausgehend, daß Schwammberger ein „gläubiger Nationalsozialist im unteren Bereich der NS-Hierarchie“ war, könne von ihm nicht erwartet werden, daß er sich mit dem Rassenhaß und so mit den „niedrigen Beweggründen“ seiner Befehlsgeber auseinandersetzen konnte. Dies sei aber Voraussetzung, um die ihm vorgeworfenen Erschießungen als Beihilfe zum Mord zu qualifizieren.

Diese Probleme der Beweisführung zeigen nach Auffassung Königs überdies, daß das 1979 beschlossene Gesetz, wonach Mord nicht verjährt, in diesem Fall „seine Bewährungsprobe nicht bestanden“ habe. Zudem sei die für die Strafverfolgungsbehörden unangenehme Frage noch immer unbeantwortet, warum Schwammberger nach seiner Flucht 1948 aus französischer Gefangenschaft in Österreich über Jahrzehnte hinweg unbehelligt in Argentinien leben konnte. So habe die Ehefrau des Angeklagten 15 Jahre lang in der Bundesrepublik gelebt und nach ihrer Übersiedlung nach Argentinien jährlich bei der deutschen Botschaft eine für den weiteren Bezug ihrer Witwenrente notwendige Lebensbescheinigung abgeholt. Schwammberger selbst erwarb zudem unter seinem Namen in dem südamerikanischen Land Grundbesitz und arbeitete über Jahre hinweg bei einer Siemens-Niederlassung, ohne daß ihm auf die Spur gekommen wäre.

Einen Gesamtantrag stellten die Pflichtverteidiger am Ende ihrer Plädoyers schließlich nicht. Ganz im Gegensatz zu Wahlverteidiger Heinrich Blessinger. Der aus dem bayerischen Miesbach stammende Anwalt, der vom rechtsextremistischen Schweizer Verleger Max Wahl nach eigenem Bekunden tatkräftig unterstützt wird (siehe Kasten), hatte für die Einstellung des gesamten Verfahrens hilfsweise auf Freispruch seines Wahl-Mandanten plädiert.

„Politischer Schauprozeß“

Besonders abenteuerlich mutete Blessingers Vergleich mit dem Prozeß gegen Ex-Stasi-Chef Erich Mielke an und die Schilderung, sein eigener Schwiegervater sei 1933 als Polizist durch einen Schuß in den Rücken getötet worden. Blessingers historisches Kurzschlußfazit — das wohl unausgesprochen auch den Nazi-Opfern gelten sollte: „Das Schicksal ist über uns hinweggegangen und wir haben es ertragen.“ So gelte für Schwammberger wie für Mielke, daß eine Bestrafung keinen Sinn mache.

Blessingers Schlußvortrag gipfelte in der These, es handle sich bei diesem Verfahren um einen „politischen Schauprozeß“, in dem die Medien den Angeklagten schon längst vorverurteilt hätten und der Angeklagte ganzen Schulklassen „als Monster“ vorgeführt werde. Mit Schwammberger stehe hingegen ein „einzelner armer alter Mann“ vor Gericht, dessen Schweigen zu den Anklagevorwürfen zeige, daß er das Verfahren „mit Haltung“ bestehe. Den Massenmord an den Juden im Generalgouvernement Krakau stellte der Advokat schließlich damit in Frage, daß es die Wehrmacht nach seiner Überzeugung niemals zugelassen hätte, sich in diesem Umfang jüdische Arbeitskräfte entziehen zu lassen, die für die Rüstungsindustrie eingesetzt waren. Die von den Nazis betriebene Endlösung der Judenfrage und ihr Abtransport in die Vernichtungslager sei schließlich keine gewesen, sondern in Blessingers Augen — ganz dem einschlägigen Sprachgebrauch folgend — lediglich eine „Umsiedlung“.

Die beiden Pflichtverteidiger Bächle und König grenzten sich von Wahlverteidiger Blessinger, der erst in den letzten Wochen in das Verfahren eingestiegen war, klar ab. Ungeachtet ihrer schwierigen Aufgabe, einen solchen Angeklagten zu verteidigen, sieht Bächle einen Sinn des Prozesses darin, „daß den Überlebenden und Angehörigen der Opfer aus jener Zeit gezeigt wird, daß die schrecklichen Geschehnisse in einem rechtsstaatlichen Verfahren aufgearbeitet werden.“ Edgar Neumann, Stuttgart