Wider den Populismus

Über die Ursache der allgemeinen Parteienkrise  ■ VON ANTJE VOLLMER

Die Krise der Parteien ist keineswegs nur eine Krise der Großen. Die Krankheit tritt als Epidemie auf. Sie trifft auch die kleinen Parteien — der Virus sitzt in der parteimäßigen Organisationsform schlechthin.

Noch vor den letzten Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein hatte Claus Leggewie als „französische Krankheit“ diagnostiziert, was sich jetzt als gesamteuropäisches Parteien-Siechtum herausstellt. Überall ist die geachtetste Partei die der Nichtwähler. Dann kommt mit wachsender Publikumsgunst die Partei, die sich am stärksten als Protestorganisation gegen das Versagen der Parteien darstellen kann (die Rechtspopulisten), dann folgen die Parteien, die noch einigermaßen neu und unbelastet vom Parteiensumpf einhergehen (die ökologisch-bürgerbewegte Partei). „Im Verfolgerfeld haben die Kandidaten die Nase vorn, die sich von ,den Parteien‘ (die sie aufgestellt und bezahlt haben), am besten gleich von ,der Politik‘ insgesamt distanzieren“ — und ganz am Ende finden sich, so Leggewie, die ordinären Parteipolitiker.

I.

Parteipolitik ist häßlich geworden. Wie kommt es, daß ein einstmals durchaus angesehener und gut bezahlter Job wie der des Politikers so vor die Hunde geht? Wie kommt es, daß die Parteien, eine Institution, von der früher mit familienhafter Treue, gelegentlich sogar mit Hingabe gesprochen wurde, nun permanent das kollektive Ekel spielen müssen?

Selbstverständlich: Die Parteien haben zuviel Macht und Einfluß, sie sind skrupellos im Organisieren des eigenen Vorteils, sie verfilzen sich in Seilschaften und Klüngeln. Auch die Politiker sind nicht zum besten. In grauer Vorzeit waren die Reden besser, die Diäten niedriger, die Charaktere kantiger und die Sensibilität für die Bürgerinteressen (vielleicht) größer. Und so weiter...

Und trotzdem. Die schwierige und unangenehme Situation will sich einfach nicht ausreichend dadurch erklären, daß ein seltsamer Zufall plötzlich alle gesellschaftlichen Nieten, Versager, Emporkömmlinge und Schweinehunde ausschließlich in den politischen Parteien zusammentreibt, während sich alle bescheidenen und verantwortungsbewußten Mitmenschen beim 'Spiegel', dem heimlichen Zentralorgan des deutschen Populismus drängeln. Sollte da nicht noch etwas gewesen sein?

II.

Noch eine Beobachtung: Seit die deutschen Fernsehanstalten in die Bonner Runde an den Wahlabenden nur noch die Geschäftsführer der Parteien einladen, läßt sich das Parteien-Elend auch sinnlich und öffentlich wahrnehmen. Blaß und früh gebeugt sehen sie alle aus, als sei es nicht mehr spaßig, Sprachrohr ihres Vereins zu sein. Da strahlt einer nur dann richtig, wenn er endlich von der Parteifahne gehen und sich wieder bei der Truppe melden kann, wie Volker Rühe jüngst geschehen.

Dann und wann wird auch öffentlich ausgeplaudert, worin sich alle Hauptamtlichen der Parteien beim Bier nach dem Medien-Schlagabtausch schnell einig sind. Anke Fuchs hat darüber ein Buch geschrieben — nach ihrer Zeit in der SPD- Baracke. Peter Radunski hat umstürzlerische Gedanken zu Papier gebracht — nach seiner Zeit im Konrad- Adenauer-Haus. Er schlägt vor:

—Die Parteien sollen sich als Massen- und Mitgliederorganisationen mit festen Weltbildern auflösen.

—Sie sollen sich statt dessen zu „Fraktionsparteien“ und „Dienstleistungsparteien“ mausern.

—Politik hat als Beruf zu gelten. Mandatsträger sollen für die von ihnen (allein) gemachte Politik öffentlich die Verantwortung übernehmen, dafür allerdings auch die Bevölkerungszustimmung organisieren.

—Parteitätigkeit soll vorrangig in Kampagnen ähnlich der amerikanischen Wahlkampagnen geschehen, für die dann auch Spenden akquiriert werden.

Soweit die weitestgehendsten Revolutionspläne, die für die Volksparteien derzeit auf dem Markt gehandelt werden — wir werden noch einmal darauf zurückkommen.

III.

Die „Partei“ ist ein Produkt der bürgerlichen Revolution. Sie entsprang der Notwendigkeit, die Gesellschaft übersichtlicher zu machen und den Kampf um die Macht im Staat zu zivilisieren, als die alte Ordnung der Welt durch Kaiser und Kirche und die dazugehörigen Feudalapparate abdanken mußte. Die bürgerliche Welt existierte in „Teilen“ und diese formierten sich in „Parteien“, die in freier Konkurrenz die staatliche Macht untereinander aufteilten, im wesentlichen dargestellt durch die großen Grundströmungen der Konservativen, der Liberalen und der aufkommenden Organisationen der Arbeiterbewegung. Dabei trat die Spaltung der politischen Welt in die politische „Rechte“ und die politische „Linke“, der sich alle zuordnen mußten, die Erbfolge des primitiven Dualismus zwischen Kirche und Staat an. Das Ergebnis war in der Praxis verblüffend ähnlich: Gehörte früher halb Europa der römischen Kurie und das andere halbe Europa dem weltlichen Feudaladel, so gehörte zuletzt die eine Hälfte Europas machtpolitisch und ideell den Linken (Warschauer Pakt) und die andere den Rechten (Nato). Auch das ist schon Geschichte.

Daß die Rechts-Links-Parteien gerade zu dem Zeitpunkt in eine elementare Krise geraten, wo der ideologische Dualismus keine Entsprechung mehr in der real existierenden europäischen Welt vorfindet, kann kaum ein Zufall sein. Wenn sich die Welt nicht mehr dual, nicht mehr rechts-links, nicht mehr richtig- falsch, nicht mehr gut-böse zur Anschauung gibt, ist die politische Widerspiegelung in Weltanschauungen ebenso rettungslos altmodisch wie das Existieren in den dazugehörigen „Teilen“ — den Parteien. Ihr Pathos wird lächerlich — es stimmt nicht mehr.

Soll man der alten dualen Ordnung nun nachtrauern, die alle Fragen so schön klar einordnete und die dazugehörige Freund-Feind-Sensibilität aktivierte? Ich meine nicht. Zwar waren die Parteien Heimat- und Familienersatz in einer feindlichen Welt, aber die Zuordnung aller sonst noch existierenden Probleme auf Erden zur strategischen Grundformation war seit langem obsolet. Sie hatte etwas Gewaltsames an sich. Und was die Parteien betrifft: die Dialogfähigeren in ihren Reihen waren schon gewöhnt ans gelegentliche Vagabundieren über die tabuisierte Grenzlinie. Die intellektuellen Abenteuer waren zu selten im eigenen Sperrbezirk zu finden. Wenn aber schon die ehemaligen Parteisoldaten das Flanieren beginnen — die WählerInnen taten es längst. Machen sich auf und davon, wählen mal diese, mal jene Partei. Die neue Unberechenbarkeit hat auch etwas Offenes an sich. Es ist ein emanzipatorischer Prozeß. Ob er auch zur Emanzipation weg von der Politik führt — das ist die bedrohliche Frage.

IV.

Wenn schon die Notwendigkeit der weltanschaulichen Frontverteidigung entfällt, so ist den Parteien noch eine andere Aufgabe genommen worden: Sie sind nicht mehr das zentrale Medium politischer Ideen. Außer der Heimatfunktion war das früher die Hauptbindung der Menschen an eine Partei: Sie wurden als Propagandisten und Überzeugungsträger gebraucht. Unersetzlich waren die Parteien als Zeitungsersatz, als Organisatoren von öffentlichen Treffen, als Anreger politischer Debatten. Wo die Mehrzahl der Bevölkerung nicht lesen und schreiben konnte, waren die Parteimitglieder politische Volkserzieher und Aufklärer, sie transportierten Nachrichten und Deutungen komplizierter ferner Begebenheiten. Sie boten Stars für das triste Alltagsleben an — und was für Stars! Das Motiv für einen jungen Menschen, in eine Partei einzutreten, war klar: Reden können „wie Rosa Luxemburg“, etwas in Europa bewegen „mit Stresemann“, sich identifizieren mit dem „eisernen Kanzler“, dafür konnte man sich engagieren, selbst wenn man weit davon entfernt war, durch die Partei Karriere zu machen.

Ohne das Medium der Partei wären die zentralen politischen Ideen des Jahrhunderts nicht verbreitet, ihre Führungspersonen nicht im Volk bekannt geworden. Die Mitglieder wurden also wirklich gebraucht. Eine solche Ausnahmesituation der Partei als Transformator einer neuen politischen Idee gab es in den letzten 70 Jahren nur noch ein einziges Mal: Zu Beginn der Grünen, die einen bis dahin unbekannten Raum politischer Vorstellungen entdeckt hatten. Das ist nun auch schon einige Zeit her.

Wer heute einem jungen Menschen einen überzeugenden Grund nennen will, Parteimitglied zu werden — in welcher Partei auch immer —, wird es schwer haben. Nichts kann die Partei als Organisation, das nicht die öffentlichen Medien schneller, eindrücklicher und effektiver übermitteln könnten. Die Faszination des Kreativen ist vorbei. Das ist es, was die Parteiarbeiter im Zentrum so früh grau werden läßt. In der Partei treffen sich heute nur noch zwei Gruppen von Menschen

—der kleiner werdende Kreis von Personen, der aus Tradition und Milieu an der Partei als Heimat festhält;

—diejenigen, die über die Partei „etwas werden wollen“, was nicht unstatthaft ist, sondern ein ganz normaler Berufswunsch.

Beide Gruppen passen nur mäßig zusammen und erzeugen genau die Personenauswahl, die der Mehrzahl der Bevölkerung nicht sonderlich gefällt. Ansonsten ist Ebbe und viel Müdigkeit auf den unteren Ebenen. So wie die Dinge liegen, können aber die Parteien sich beim besten Willen nicht mehr Bedeutung zulegen, als ihnen in ihrem sozialen Umfeld an Sinn zugestanden wird: Sie haben Tradition zu pflegen und Leute für die politische Tätigkeit bereitzustellen. Als politisches Medium sind die Parteien historisch überholt, out of time. Das ist der innerste Kern ihrer zunehmenden Schwäche.

V.

Wenn die Parteien eine Zukunft haben wollten, müßten sie eine neue überzeugende Antwort auf die klare Frage finden: Warum soll jemand, der weder eine Heimat noch einen Job sucht, dazu womöglich noch jung ist, Parteimitglied werden? Was könnte ihn oder sie rufen? Einige der oben genannten Vorschläge von Radunski geben darauf eine Teilantwort. Als Weltanschauungsghettos haben die Parteien ausgedient — als Dienstleistungsparteien mit ortsnaher Anbindung erfüllen sie eine soziale Funktion mit begrenzter Sinnstiftung. Weniger ideologische Plattheiten und mehr solide Politikausbildung macht auch Sinn, gerade wenn die Repräsentanz der Parteien zunehmend an die Mandatsträger übergeht — wofür auch die schlichte Tatsache spricht, daß es heute schon weitgehend so ist.

Völlig kontraproduktiv dagegen ist das Konzept, die Parteien endgültig zu Kampagnenträgern zu machen und damit PR-mäßig aufzupeppen. Diese Form der „Amerikanisierung der Politik“ wäre geradezu die sicherste Methode zur Intensivierung des Grundübels. Kampagnen führen heißt in aller Regel: Populismus erzeugen, um ihn zu bedienen. Diese Unsitte, das öffentliche Bewußtsein zu traktieren, ist überreichlich verbreitet. Lange genug nämlich klappte die einfache Kreislaufwirtschaft zwischen den Volksparteien und den Wählern: Wir bedienen euch mit populistischen Wahrheiten (ob über Asyl, Abtreibung, „blühende Landschaften“ oder Steuerlügen) — ihr bedient uns mit Wählerstimmen. Soeben hat diese Methode ihre Meister gefunden in den neu entstehenden populistischen Parteien und Bewegungen.

Der Trend aller politischen Parteien zum Populismus ist dadurch aber keineswegs gebrochen — selbst wenn er in dem törichten Unterfangen besteht, den rechten Populismus mit dem linken Populismus zu erhaschen. Populismus aber ist der Killervirus für Politik überhaupt.

Wer die Parteien — und übrigens auch die Gewerkschaften — noch windschnittiger machen will für populistische Strömungen, kann gleich mit der Politik aufhören — sie hat dann sowieso keine Chance mehr.

Ein gutes Stück Weges zur Abschaffung der Möglichkeit von Politik haben alle Parteien bereits zurückgelegt. Die letzten Turbulenzen in Vorstand und Fraktion der FDP waren dafür ein deutliches Sittengemälde. Kräftig angestoßen bei der Demontage werden sie dabei von den öffentlichen Medien, die einen vergleichbaren Trend zum populistischen Journalismus aufweisen — bei dem dann irgendwann vor lauter Symbolik und pharisäerhaftem Gedröhne auch kein Journalismus mehr möglich sein wird.

Was die Parteien dringender brauchen als Pep und PR ist eine neue Ethik des Politischen. Eine Ethik des Politischen ist mehr als eine politische Moral und auch mehr als die Summe der moralischen Einzelzuschnitte der Parteimitglieder. Die Ethik des Politischen heißt: Das Gemeinwesen hat Vorrang vor den Einzelinteressen, auch vor den Teil-Partei-Interessen, selbst vor den pathetisch vorgetragenen kollektiven Einzelinteressen der populistischen Bewegungen, die im Gewande der Gleichheit aller daherkommen.

Vor allem: Praxis hat Vorrang vor Symbolik. Problemlösung hat Vorrang vor populistischer Phrasendrescherei. Fakt ist nämlich seit geraumer Zeit, daß sich die zu lösenden politischen Probleme in einer Weise drängen, die keinerlei Spielraum für populistische Als-ob-Lösungen läßt. Deswegen flüchten die Volksparteien ja geradezu in die großen Koalitionen als Schonzeiten, wo man ein bißchen gemeinsam Politik betreibt mit der gegenseitigen eidesstattlichen Versicherung, diese Zeit nicht zum jeweiligen machtpolitischen Vorteil zu nutzen. Dieser Drang zu den großen Koalitionen aus Angst vor populistischem Standortvorteil ist logisch — aber nicht überzeugend.

So stehen die Parteien — auf der Höhe ihrer Krise — vor einer ziemlich klaren Entscheidungsalternative für ihre weitere Zukunft: Entweder Populismus for ever — dann gibt es eben keine Politik mehr. Oder: große Koalition auf Dauer — dann gibt es zwar noch Problemlösungen im großen Parteientopf, aber wachsende populistische Strömungen im außerparlamentarischen Raum mit den bekannten Folgen. Oder: Selbstverpflichtung der demokratischen Parteien, scharf gegen den populistischen Wind zu segeln und politisch zu werden. Könnte ja sein, daß einige Menschen dann sogar wieder Lust auf Politik bekämen.

Die Gesellschaft ist populistisch, weil sie konsequent jegliche Hierarchie ablehnt, in der Annahme, wir seien alle gleich... Das ist nicht eine Gleichheit, von der z.B. die Kirche spricht, die ja sagt, daß wir nur vor dem Altar alle gleich sind. Und es ist auch nicht jene Gleichheit, die, zumindest in der ersten Phase, die französische Revolution meinte: Nämlich die Gleichheit der Chancen. Nein, es ist eine Gleichheit anderer Art, die meint, wir hätten alle gleich große Mägen, denen genau das gleiche zusteht. Es ist also die bolschewistische Gleichheit.

Adam Michnik