Afghanische Kabale und brüchige Loyalitäten

Die Mudschaheddin haben gesiegt, doch die Begeisterung der Bevölkerung ist gedämpft/ Verteidigungsminister Masud braucht die berüchtigten Usbekenmilizen und gewinnt dadurch Feinde/ Waffen und Kämpfer werden weiter um Kabul konzentriert  ■ Aus Kabul Ahmad Taheri

Afghanistan hat einen neuen nationalen Gedenktag. An diesem Tag soll der Rückkehr der Mudschaheddin- Führer aus dem pakistanischen Exil gedacht werden. So beschlossen es die Mitglieder des höchsten Organs der islamischen Regierung Afghanistans, des sogenannten Führungsrats — in dem neben den Anführern der acht sunnitischen Organisationen auch der Chef der schiitischen Gruppe „Islamische Bewegung“ Ayatollah Mohseni vertreten ist — bei ihrer ersten Sitzung.

Welcher Tag aber da gefeiert werden soll, weiß niemand. Denn die Rebellenführer trafen nicht zusammen in der afghanischen Metropole ein, sondern in deutlichem Abstand nacheinander. Jeder von ihnen wollte anscheinend gesondert gehuldigt werden, als sei er der eigentliche Sieger über die Kommunisten. Empfangen wurden die „sieben Könige von Peschawar“, wie das Volk die muslimischen Exilpolitiker in der nordpakistanischen Stadt nannte, nur von der eigenen Gefolgschaft, städtischen Notabeln oder kommunistischen Wendehälsen. Die Bevölkerung blieb zu Hause.

Der Sieg des Islam am Hindukusch hat von den Massen keinen Besitz ergriffen, obwohl die Preise dank der pakistanischen und iranischen Hilfe um zwei Drittel gefallen sind. Nicht einmal die Einführung der Scharia, des islamischen Rechts, hat beim gläubigen Volk Jubel ausgelöst. Es sind vor allem die muslimischen Bruderkämpfe und ungeklärten Machtverhältnisse, die die Freude über die vermeintliche Befreiung dämpfen.

„14 Jahre lang habe ich von den Bergen aus gegen Kabul gekämpft. Ich werde, wenn es nötig ist, weitere 14 Jahre gegen die Kommunisten kämpfen“, sagt der Fundamentalistenführer Gulbuddin Hekmatyar in der südostafghanischen Stadt Dschalalabad, wo seine Männer mit den anderen Mudschaheddingruppen die Macht teilen. — „Kommunisten?“ In Kabul herrscht doch eine islamische Regierung!“ — „Nein“, antwortet der Zelote barsch, demonstrativ in paschtunische Tracht gekleidet, „in Kabul herrscht der Kommunist Abdulmadschid!“ — „Wer zum Teufel ist Abdulmadschid?“ geht die Frage durch die Reihen der ausländischen Journalisten.

Abdulmadschid, angeblich die graue Eminenz der afghanischen Kabalen, ist der Stellvertreter des einstigen Milizenchefs Nadschibullahs, General Abdul Raschid Dostam, in Kabul. Dostam, auf deutsch „Mein Freund“, war einst die eiserne Faust des kommunistischen Regimes. Sein Freund Abdulmadschid, ein Tadschike mit Lippenbart und blutunterlaufenen Augen, befehligt in der afghanischen Hauptstadt die „Kelim Dscham“, die „Teppichräuber“, wie die usbekischen Milizionäre Dostams im Volksmund genannt werden. Unter Nadschib überfielen und plünderten sie die Dörfer unter dem Vorwand, dort hätten sich die Mudschaheddin versteckt.

Abdulmadschid, so vermutet man, sitzt neben dem Verteidigungsminister Ahmad Schah Masud im „Kabuler Sicherheitsrat“, der für Ruhe und Ordnung in der afghanischen Metropole zuständig ist. Außerdem ist er der Verbindungsmann zwischen den Mudschaheddinführern und den Militärverbänden des einstigen Regimes.

Sein Chef Dostam verließ vor drei Monaten das sinkende Schiff des Kommunismus und übergab die nördlichen Regionen Afghanistans Ahmad Schah Masud. Die beiden Männer bildeten gemeinsam im Norden den „Nationalen Islamischen Rat Afghanistans — Nördliche Gebiete“. Der Rat nimmt für sich in Anspruch, die Interessen der ethnischen Minderheiten zu vertreten.

Im Kampf um Kabul vor wenigen Wochen trugen Dostams Männer entscheidend zum Siege Masuds über seinen Erzrivalen Hekmatyar bei. Seitdem sind die „Teppichräuber“ zum eigentlichen Problem des afghanischen Dramas geworden. Teufel oder Belzebub? ist zur Zeit die afghanische Frage, denn Hekmatyar will sich erst mit der islamischen Regierung einigen, wenn die usbekischen Milizionäre Dostams aus der Stadt verschwunden sind.

„Das sind Russen!“

Die neun Männer im Führungsrat sind sich in dieser Frage nicht einig. Doch Masud, der „Löwe von Panschir“, hat sich bereits für Dostam entschieden. „General Dostam“, so Masud in einem Gespräch vor einigen Tagen, „verdient keine Beschimpfung, sondern Lob und Ehrerbietung. Er hat zum Siege des Islam viel mehr beigetragen als so mancher Mudschaheddinführer.“

Beschimpft wird der einstige Kommunist Dostam hauptsächlich von Hekmatyar und seiner Gefolgschaft. „Mein Freund“ ist zum bad guy der fundamentalistisch-paschtunischen Propaganda geworden. Wilde Gerüchte kursieren über die usbekischen Teppichräuber im afghanischen Bergland. Von Mord, Raub und Vergewaltigung an den Paschtunen ist die Rede. — „Was halten Sie von Dostams Leuten?“ — der befragte Basarhändler im Zentrum Kabuls beginnt hysterisch zu schreien. „Die sind keine Afghanen, die sind Russen, echte Russen. Diese gottverdammten Hurensöhne rauben unsere Habe, ermorden unsere Kinder und schänden unsere Frauen.“ Auf die kreischende Klage des alten Mannes strömen die Basari aus ihren Läden. „Wo bleibt die UNO?“, sagt ein junger Mann, Besitzer eines Buchladens. „Wir wollen endlich Ruhe und Frieden.“ — „Sorgen die Mudschaheddin nicht für Ruhe?“ — „Zu schwach, zu schwach!“ antwortet die Menge fast im Chor.

In der Tat ist die neue Macht zu schwach, um sich der Usbeken zu entledigen und zugleich dem nach Alleinherrschaft strebenden Hekmatyar Einhalt zu gebieten. Die 30 bis 40.000 usbekischen „Milischa“ verfügen über das von Nadschibullah vererbte schwere Waffenarsenal und können, im Gegensatz zu den Mudschaheddin, mit Kampfflugzeugen oder Panzern umgehen.

Es gibt allerdings weitere Gründe, warum der Verteidigungsminister die usbekischen Umtriebe duldet, die ihn bei der Bevölkerung schließlich viele Sympathien kosten. Ironischerweise kann sich Masud im Kampf gegen den Erzfeind Hekmatyar eher auf den ehemaligen Kommunisten verlassen, denn auf die muslimischen Heerscharen. Außer seiner tadschikischen Gefolgschaft aus dem Pandschirtal, die ihren Chef mit der Adlernase, dem melancholischen Blick und der gebieterischen Stimme vergöttern, sind die anderen an der Macht beteiligten Mudschaheddin nicht so eindeutig gegen den fundamentalistischen Machtprätendenten Hekmatyar.

Viele von ihnen teilen mit seiner Islamischen Partei nicht nur das ideologische und religiöse Gedankengut, sondern — was weitaus wichtiger ist — die paschtunische Herkunft. Sie stehen den Männern Hekmatyars näher als den tadschikischen Partisanen Masuds, geschweige denn den usbekischen Milizionären. „Die Kämpfe der Mudschaheddin untereinander“, sagt ein Kommandant der Islamischen Einheit, geführt von Innenminister Abdul Rasul Sayyaf, „ist eine Sache der muslimischen Familie. Da haben die kommunistischen Bastarde nichts zu suchen!“

Ahmad Schah Masud dürfte nicht einmal der Loyalität des eigenen Chefs, Professor Burhanuddin Rabbani, Führer der Dschamiat-i-Islami, zu der Masud formal gehört, sicher sein. Rabbani, der designierte Nachfolger Mudschaddidis, der in zwei Monaten das Präsidentenamt antreten soll, ist zur Zeit bemüht, seinen langjährigen Mitstreiter Hekmatyar an der Macht zu beteiligen.

Ränke des „Truthahns“

Kürzlich bot Mudschaddidi — der „Truthahn“, wie die Afghanen den tadschikischen Schriftgelehrten wegen seines häufigen politischen Farbwechsels nennen — der Islamischen Partei Hekmatyars den Posten des Premierministers an. Der relativ aufgeschlossene Sufi-Scheich, der angeblich von Abu Bakr, dem frühislamischen Kalifen abstammt — was er übrigens als Legitimation seiner Herrschaft betrachtet —, empfindet für den paschtunischen Islamisten Hekmatyar nicht weniger Abneigung als der tadschikische Held von Pandschir.

Außerdem hofft der 65jährige Theologe mit guten Sprachkenntnissen in Englisch und Dänisch, mit Hilfe des Verteidigungsministers weiter an der Macht zu bleiben. Nach Beschluß des 51köpfigen Mudschaheddinkonzils, des provisorischen Parlaments des Heiligen Krieges, soll Mudschadedi nach zwei Monaten zugunsten Rabbanis zurücktreten. Dieser ist dann verpflichtet, während seiner viermonatigen Amtsperiode allgemeine Wahlen vorzubereiten. Masud läßt durchblicken, daß er sich den Verbleib Mudschaddidis an der Macht wünscht.

Die afghanischen Ränkespiele gehen also weiter. Seit über einer Woche gibt es zwar eine Feuerpause, nachdem 48 Stunden lang Kabul unter Raketenbeschluß stand, doch nur noch wenige Afghanen glauben daran, daß die Bruderkämpfe nicht noch einmal aufflammen werden. „Was sollen wir den ganzen Tag ohne Schießereien machen“, sagen viele Afghanen selbstironisch.

Die beiden Rivalen Masud und Hekmatyar sind zur Zeit dabei, immer mehr neue Männer und Waffen aus den entfernten Regionen Afghanistans in und um die Hauptstadt zusammenzuziehen. Um sich die Loyalität des Militärs Nadschibs zu sichern, ernannte Masud den einstigen Kommunisten, General Asef Delawar, zum Stabschef der afghanischen Armee. Das afghanische Fernsehen zeigte ein Defilee von 200 fabrikneuen russischen Panzern, die Masud zur Verfügung stehen. Es gehen in Kabul Gerüchte um, daß die Tanks kürzlich über den Amu Darja aus der Republik Tadschikistan gekommen seien.

In Duschanbe verehren selbst die Kommunisten den tadschikischen Helden Afghanistans. Zuletzt appellierte der Taktiker Masud an die Soldaten, die unter dem kommunistischen Regime desertiert waren, nach Kabul zurückzukehren, um in allen Ehren und mit gutem Sold in die islamische Armee aufgenommen zu werden. Der Appell ist ein geschickter Schachzug. Viele entlaufene Soldaten befinden sich im Lager Hekmatyars.