KOMMENTAR
: Deutsche Wegstrecken

■ Die "Affäre Willibald" eröffnet die zweite Periode der Wende

Deutsche Wegstrecken Die „Affäre Willibald“ eröffnet die zweite Periode der Wende

Die Lernfähigkeit von uns tumben Ossis — gar oft wird sie in Zweifel gezogen. Die meisten scheinen unbelehrbar und bewegen sich kein Jota schneller. Angeblich weder in Gedanken noch auf der Arbeit, sehr zum Zorn ihrer kometenschnellen Westkollegen. Auch rumoren noch immer in den trüben Ostrüben jene vorgeblichen Ideale, die ihnen — zwar unsäglich deformiert, aber nie ganz ohne Wirkung — jahrzehntelang eingehämmert wurden. Im Gegensatz zu diesem Menschentyp — man kann ihn als den veredelten Osteinfaltspinsel klassifizieren —, gibt es den rasanten ostdeutschen Durchstarter. Zum Zeitpunkt der Wende, als sich noch jeder Jungpionier bitter seines Versagens schämte, war einer seiner einstigen Lehrer, der Willibald Böck aus Ternterode im Eichsfeld, als wohl rasantester Durchstarter schon längst unterwegs in Richtung Westen und Demokratie. Ohne die geringste Atempause, die Huldigung des großen Wiebelskirchener Erich während der Feierstunde zum 40. DDR-Jahrestag jäh unterbrechend, um nach kurzem rülpsartigem Schluckauf überzuleiten in die himmelsstürmende Laudatio eines anderen, nun wirklichen Menschheitsgenies, wohnhaft zu Oggersheim am Rhein.

Wenn die deutsche Wende Genies hervorgebracht hat, dann den Thüringer Schul- und Altbürgermeister Willibald Böck. Aus dem Nichts zum CDU-Landesvorsitzenden, dann fast sogar Ministerpräsident, jedoch Verzicht zugunsten des Don der Gothaer Karnevals-Connection — Joseph Duchac. Böck bekam dafür das Innenministerium und gleich darauf die Schmiersumme von 45.000 DM. Mit der Affäre Willibald geht die erste, die moralische Periode der Wende zu Ende. Schnur, de Maizière, Böhme, fast vergessene Namen. Das Volk konnte und wollte die in jenen Männern manifest gewordene Lüge nicht weiter ertragen — so kurz nach dem Ende der Lüge eines ganzen Staatswesens. Die Böcks und Co. aber wurden sogar mit Sympathie bedacht. Liebe den Böck wie dich selbst, denn er ist wie du. Seine hemdsärmelige Erklärung „Ich bin eine Altlast“ bereitete dem Wahlvolk zunehmend Vergnügen. Das Ausmaß Böckscher Skrupellosigkeit nun nicht mehr.

Die zweite Periode der Wende ist eröffnet. Wieder mit der Affäre Willibald. Deren Ausgang wird den Charakter der nächsten deutschen Wegstrecke maßgeblich bestimmen. Vielleicht wird die Moral obsiegen. Zweifel sind angebracht. Schon physisch strengt sich bei der Betrachtung des Mannes Böck das Bild eines verewigten bayerischen Politikers auf. Nicht die Moral, immer nur die Macht war dessen Credo. Und jener rasante Durchstarter ist wie wenige seiner Landsleute lernfähig. Henning Pawel