GASTKOMMENTAR
: Hammelsprung an der Grenze

■ Innenminister von Bund und Ländern einigen sich: Für die meisten Kriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina bleibt die deutsche Grenze weiterhin geschlossen

Ein Hammelsprung für Flüchtlinge an der deutschen Grenze, das ist eine neue Variante der Abwehr. Flüchtlinge, die serbischem Terror oder ethnischer Massakrierung entkommen sind, werden mit einem humanitären Touch aussortiert. Aufgenommen werden sollen die, die als Kranke oder Verwundete ohne medizinische Betreuung bleiben müßten, oder auch alle, die Kontakte zu Verwandten oder Bekannten in der Bundesrepublik haben. Sehr bedenklich ist dabei die deutliche Tendenz, die Aufnahmeverpflichtung der öffentlichen Hand durch eine neue Form der Privatisierung zu umgehen.

Mit der nun auch von den Ländern abgesegneten Form der Selektion verbindet Bundesinnenminister Rudolf Seiters die Vorstellung, ungesteuerte und unkontrollierte Zuwanderung verhindern zu können. Es ist ein makabre Vorstellung, die Katastrophe einer Massenflucht im Sinne der Wohlstandsfestung Bundesrepublik steuern zu wollen. Diese Form von „Steuerung“ läßt sich wohl kaum mit dem Geist der Genfer Flüchtlingskonvention noch mit dem des Grundgesetzes vereinbaren.

Noch könnten sich alle Flüchtlinge den Zugang zur Bundesrepublik dadurch verschaffen, daß sie regulär Asyl begehren. Darauf sind sie aber bei ihrer Flucht, die sich Hals über Kopf vollzieht, nicht eingestellt. Was an der Grenze zu Österreich passiert, läßt ahnen, was droht, käme es zu einer Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes. Dann wäre Flüchtlingen selbst diese Möglichkeit genommen, eine individuelle Prüfung ihres Asylantrages innerhalb der Bundesrepublik zu erreichen. Sie verlören endgültig auch die Chance, im Falle einer Ablehnung ihres Antrages möglicherweise nicht abgeschoben zu werden, weil ihnen Gefahr für Leib und Leben droht, etwa auch die Gefahr, in einer Region mit Hunderttausenden von Flüchtlingen, die verhungern oder ohne medizinische Betreuung bleiben, umzukommen.

Wenn Schweden derzeit in der Lage ist, täglich 1.000 Flüchtlinge aus dem Balkan aufzunehmen, könnten es in der Bundesrepublik — auf die Zahl der Bevölkerung bezogen — jeden Tag Tausende sein. Hierzu bedarf es nur des politischen Willens. Sollte, diesen vorausgesetzt, das normale behördliche Instrumentarium nicht ausreichen, wären Krisenstäbe zu bilden. Sie müßten, mit den nötigen Kompetenzen ausgestattet, Flüchtlinge notfalls auch gegen den Widerstand von Bürgermeistern und plebejischen Aktionen in öffentlichen Gebäuden unterbringen. Herbert Leuninger

Sprecher der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge „Pro Asyl“