Über Politikverdrossenheit

Über Politikverdrossenheit

Politikverdrossenheit ist wie eine Krankheit, verbreitet und ansteckend. Sie hat viele Gründe, über einige wollen wir nachdenken.

Politiker, auch und gerade in Koalitionen, müssen begreifen, daß der Bürger nicht endlose Diskussionen, vielmehr Entscheidungen sehen will. Da wird eine Sache angekündigt — und statt des Vollzugs kommt ein erneutes Verschieben. Oder eine nach Meinung vieler Menschen wichtige Sache, zum Beispiel Asylrecht, geht sachlich unter in einem als Schlagwortabtausch empfundenen Streit der Parteien. In zentralen, lebenswichtigen Fragen muß ein Bündnis der Vernünftigen möglich sein. Freiheitlicher Meinungsstreit darf nicht zur Handlungsunfähigkeit führen. Dann meint der Bürger, es sei ja doch alles zweck- und sinnlos. Und er fragt, was denn der Politiker überhaupt tut.

Die Debatte über die Diäten ist da ein Alarmsignal. Man vergißt, wieviel Arbeit in den Parlamentsausschüssen, in den Wahlkreisen geleistet wird; man vergißt, daß in der Wirtschaft Lohn- und Einkommenszuwachs mit Selbstverständlichkeit gefordert und auch akzeptiert wird. Doch beim Parlament spricht man von Selbstbedienung. Kaum einer weiß, daß die Verfassung — und es gibt sogar ein Verfassungsgerichtsurteil darüber — nichts anderes als die Entscheidung der gesetzgebenden Gewalt selbst zuläßt. Die unabhängigen Kommissionen (Landesrechnungshof, Bund der Steuerzahler gehören ihr unter anderem an), die wir in Berlin haben, können nur die »Teuerungssätze« benennen. Ich begrüße daher sehr, daß die Kommissionen, die sich auf Landes- und Bundesebene mit möglichen Änderungen der Verfassung beschäftigen, dort eine Regelung zu finden hoffen, die solchen unabhängigen Kommissionen mehr Rechte gibt, damit angemessene Entscheidungen gelingen und angemessene Diäten vereinbart werden, sonst gelingt es nicht, Leute, die es in ihrem Beruf, in ihrem Leben zu etwas gebracht haben, als Parlamentarier zu gewinnen.

Wo sind, so fragt mancher Politikverdrossene, die schöpferischen Querdenker in den Fraktionen? Studium, vielleicht noch Assistent bei einem Abgeordneten und dann selbst Abgeordneter, das sollte nicht die Regel sein. Ob jung oder alt, Mann oder Frau — Abgeordnete in Landtagen (in Berlin Abgeordnetenhaus) und im Bundestag sollten nur Menschen werden, die sich auch außerhalb der Politik bewährt haben. Professor Scheuch, der kürzlich die persönliche Unabhängigkeit des Abgeordneten einforderte, nannte nur den Beruf als Bewährungsfeld. Wo bleibt da die Frau, die Kinder erzogen hat und deshalb nicht erwerbstätig, aber in meinem Verständnis durchaus berufstätig war? Die Leitlinie könnte so beschrieben werden: Die oder der Abgeordnete muß, wenn es einmal hart auf hart kommt, etwas haben, worauf er oder sie zurückfallen kann, so daß das Ende einer parlamentarischen Tätigkeit nicht zur Lebenskatastrophe wird.

Immer wieder zielen die Überlegungen auf die Kandidatenauswahl. Es ist heute sehr selten geworden, daß jemand, der nicht den jahrelangen Stallgeruch des Ortsverbandes oder einer Vereinigung mitbringt, ein Mandat erhält. Der Versuch, den wir vor Jahren einmal bei einer Satzungsdebatte gemacht haben, dem Vorstand ein eigenes Vorschlagsrecht für einige wenige Plätze zu geben, das dann selbstverständlich der Delegiertenversammlung zur Abstimmung zu geben ist, fiel gnadenlos durch. Frauen können nicht selten ein Lied singen, wie schwer es ist, Absprachezirkel zu durchbrechen. Doch manchen schreckt auch die Mühsal politischer Beratungen ab — auch in Fraktionen fallen Mehrheiten nicht vom Himmel. Politikverdrossenheit ist bequemer als stundenlanges Ringen um Entscheidungen.

Und wenn ich nun noch den Schmähstil nenne, dann sind durch ihn wohl die meisten Bürger ebenso abgeschreckt wie nicht wenige mögliche gute Kandidaten. Vorverurteilungen in der Presse, Diffamierungen durch den politischen Gegner wirken verheerend. Doch seltsam — und tröstend: Wer nichts vom »Politiker« hält, sagt zu dem ihm bekannten Politiker: »Ja, Sie, Sie akzeptiere ich...« Da sind wir alle gefordert, Wähler und Gewählte. Wir müssen einander begegnen, voneinander Kenntnis nehmen, und wir müssen den Schmähstil streichen. Und wie wäre es, den Weg von der Zuschauerbank zu den Parlamentsbänken zu suchen? Das ist eine Aufforderung an den Bürger und an die Parteien.

Hanna-Renate Laurien ist Präsidentin des Abgeordnetenhauses und Mitglied des CDU-Bundesvorstands