DEBATTE
: Salomon in Hamburg

■ Das jüdische Friedhofsgelände in einen Ort des Gedenkens verwandeln

Im Konflikt um den Jüdischen Friedhof in Hamburg-Ottensen scheint sich nach dem Schiedsspruch des Vorsitzenden der rabbinischen Gerichte, Rabbi Itzhak Kolitz, nichts geändert zu haben. Allenthalben verlautet vorgetäuschte Selbstsicherheit. Tenor: Weiterbauen! (Investoren) und: Der Senat werde das Bauvorhaben weiter unterstützen (der Kanzlist des Ersten Bürgermeisters). Untrüglich und fester noch als zuvor sind die Motive der Weitermacher verknotet im Vorstellungsbild, das Gelände bleibe verfügbar: ehemaliger jüdischer Friedhof.

Der Rabbi spricht im Gutachten, wie ein Salomon im Deutschland nach Auschwitz nur sprechen kann: unter dem unauflöslichen Druck, der von Tatsachen ausgeht, die vollendet sein und bleiben sollen. Leute, die sich anschicken, ihre Vergangenheitsbewältigung als eine Stadtbaupolitik in größtmöglicher Übereinstimmung mit dem Baugeschäft fortzusetzen, sollen den rabbinischen Ratschluß begreifen? Sie könnten es nur, wenn sie endlich Kontakt finden wollten zur Geschichtlichkeit und Heiligkeit eines alten, in der Diaspora verbürgten Rechts, des Rechts der Toten auf ihre Erde. Der Rabbi erwartet das von den Regierenden offenbar nicht mehr. „Die Bundesregierung hat der Sache ihr Ohr verweigert.“ Jedes Gebäude über diesem Friedhof werde ein Schandmal für die Regierenden in Bonn und Hamburg sein. Der Widerspruch zwischen jüdischem und deutschem Recht ist im Gutachten klar bezeichnet. Juden in Deutschland können ihn nicht auflösen. Der geistliche Spruch ergeht an diesem Kernpunkt deutsch- jüdischer Beziehungen „schweren Herzens“: Eine Überbauung wird für möglich gehalten „unter Berücksichtigung des Umstands, daß die Käufer viel Geld für den Erwerb des Ortes investierten.“

Da der Rabbi zugleich ohne Wenn und Aber eine Umbettung der anonymen Gräber untersagt, die geplanten Tiefbaumaßnahmen aber „pietätvoll“, wie die Investoren sich das denken, nicht sein können, hat das Gutachten die Entscheidungslage in Hamburg radikal, „auf ihre Wurzeln hin“ zu durchdenken aufgegeben. Wenn die Bauherren wirklich weiterbaggern, so kann das nur als Fortsetzung deutscher Schändungen erlebt werden. Die Alternative könnte sich zeigen, wenn die Anklage im Gutachten verstanden wird. Sie ist gegen „beide Verwaltungen, Deutschlands und der Stadt“, gerichtet. „Jegliche Verantwortung“ sei verweigert worden. Und hier gibt der Rabbi den entscheidenden Wink: Was bisher versäumt wurde, könnte noch geschehen, nämlich die Verwandlung des Geländes in einen von den Deutschen in Obhut genommenen Ort des Gedenkens (vielleicht unter Verwaltung der Jüdischen Gemeinde). Niemand in Hamburg hat diese Stelle im Text bisher zitiert. „Trotz aller Bemühungen und Bitten weigerten sie (die Regierenden) sich, den klaren Beschluß zu fassen, diesen von den Nazis geschändeten Ort auszulösen, um ihn in einen Ort des Gedenkens zu verwandeln, ihn zu pflegen und so eine Überbauung zu verhindern, wie das bei jedem anderen jüdischen Friedhof der Welt üblich ist.“

Wenn die Angesprochenen nicht verstehen wollen — wird es die kulturelle Öffentlichkeit in Hamburg und anderswo können? Es ist die letzte Hoffnung, die deutscherseits jetzt noch formuliert werden kann. Das Gräberfeld darf nicht bebaut werden, keine Mischlösung à la Börneplatz in Frankfurt ist geschichtlich erträglich (Gedenkstätte in einer Überbauung), überhaupt keine eigentumsrechtliche Vertuschung der Enteignung durch NS-Hamburg! Und zu alledem muß die Fixierung auf jenen Augenblick des Verkaufs 1950, den der Rabbi nach jüdischem Recht widerrechtlich nennt, aufhören. Auch nach deutschem Recht zurückgeblickt, ist der Verkaufsvorgang bis hin zur Baugenehmigung 1953 fragwürdig. Vor allem aber hat sich noch niemand die Mühe gemacht, in jene Jahre nach 1945 gründlich zurückzudenken, als Überlebende der Shoah traumatisiert auf deutschem Boden einen Aufenthalt nahmen, der nachträglich nicht unter formalrechtliche Definitionen gezwungen werden darf, wenn wir heute anders als formal exekutiv denken und handeln wollen. Klaus Briegleb

Professor für deutsche Literaturwissenschaft in Hamburg und Verfasser von „Unmittelbar zur Epoche des NS-Faschismus“ (1989)