NOTIZEN ZUR STIMMUNGSLAGE DER NATION — TEIL V
: „Larmoyant waren die Deutschen schon immer“

Junge Leute geißeln die Unzufriedenheit und den Egoismus im Lande  ■ Auf den Schienen Bascha Mika

Da war doch mal ein Fischer, und der hatte einen Butt, aber auch eine Frau und die wollte immer mehr und mehr und wie endete das Ganze? Böse natürlich! Unzufriedenheit ist eben aller Laster Anfang.

Diese Märchenweisheit verkünden im Zug nach Norddeutschland nicht etwa greise Omis, sondern junge Leute um die dreißig. Vorzugsweise die mit guter Ausbildung und erträglichem Job. Ihre persönliche Zukunft macht ihnen wenig Sorgen, schon mehr belasten sie die globalen Probleme dieser Welt: Umweltverschmutzung, Aids, Hunger. Die Miesepetrigkeit ihrer Landsleute registrieren sie kopfschüttelnd — doch an Erklärungsmustern fehlt es selbstverständlich nicht. „Den Leuten ist einfach nicht klar“, meint ein Arzt, „wie privilegiert sie sind. Die Ansprüche der Deutschen sind enorm, dabei kennt man doch kaum jemanden, dem es wirklich schlecht geht. Selbst wenn den Leuten bewußt wäre, wie gut sie es haben, wären sie nicht glücklicher.“

„Larmoyant waren die Deutschen schon immer“, stochert sein Feund und Kollege in der teutonischen Seele. „Haufenweise fangen sie nichts an mit ihrem Leben. Kein Wunder, daß sie neurotisch und depressiv werden.“ „Obwohl“, wirft der erste ein, „es gibt ja wirklich eine größere Dynamik, es passiert viel mehr. Die Leute wissen nicht mehr, wo der Zug fährt.“ Der Zug der beiden fährt erstmal nach Hamburg. In der Klinik, in der sie dort arbeiten, haben sie festgestellt, daß sich die Situation tatsächlich verändert hat. „Für die Obdachlosen, die wir behandeln, können wir kaum noch Klamotten kriegen. Sie liegen oft länger im Krankenhaus, nur weil sie nichts anzuziehen haben. Die Wohlfahrtsverbände haben nicht mehr so viel. Geht wohl alles in den Osten.“

„Uns geht es einfach zu gut! Man kann sehr viel preiswerter leben, wenn man ein bißchen aufpaßt“, sagt die junge Psychologin, die schon beim Anblick dicker Autos Aggressionen kriegt. Ansonsten hat sie eine durchaus eigensinnige Erklärung für die Stimmungslage der Nation: Diesem Land fehle es vor allem an Kreativität — das fördere die Unzufriedenheit. Ihre Mitreisende ist Diplombiologin und macht gerade eine Ausbildung als Patentanwältin. Ironisch verzieht sie den Mund: „Die Leute jammern doch immer. Haben Sie schon einmal erlebt, daß jemand sagt, er hätte genug Geld?“

„Die Lage ist noch nicht so schlecht wie die Stimmung“, stellt ein Düsseldorfer Finanzmakler über seiner Börsenzeitschrift fest. „Aber die Bremsspuren in der Wirtschaft sind deutlich zu sehen. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht mit Kunden darüber rede, und nach allem was ich mitbekomme, ist es schon ziemlich mies.“ Eine Analyse hat er auch gleich parat: „Das ist ein gesellschaftliches Problem, hervorgerufen durch mangelnde politische Führung. Was den Schluß nahelegt, daß das Problem in Bonn liegt.“ Ob Zinsbesteuerung, Pflegeversicherung oder Paragragh 218 — das müsse doch so nicht sein. Der Bundeshaushalt sei aufgebläht, warum solle der Bürger dann sparen? Mit der Zuversicht des Yuppies hält der Makler die Schwierigkeiten für hausgemacht und lösbar, wenn man sie nur richtig anpackt. Doch wie die beiden Mediziner diagnostiziert er charakterliche Deformationen beim deutschen Volk. „Deutschland hat sich zum Neidstaat entwickelt. Jeder denkt nur an sich selber. Die Identifikation, das Wir- Gefühl ist einfach nicht da. Und die Menschlichkeit bleibt auf der Strecke.“