: Zählt Neuseeland bald zur dritten Welt?
Aus dem „schönsten Ende der Welt“ ist ein krisengeschütteltes Land geworden/ Abstieg aus der OECD droht ■ Von Heribert Dieter
Wellington (taz) — Die südpazifischen Staaten Neuseeland und Australien, prophezeite Lee Kuan Yew schon vor Jahren, würden bald „the poor white trash“ des pazifischen Wirtschaftsraums sein. Singapurs Premierminister scheint Recht zu behalten: Die wirtschaftliche Lage in den beiden angelsächsisch geprägten Ländern wird zusehends schwieriger. Vor allem das Inselreich Neuseeland, von der Tourismuswerbung als das schönste Ende der Welt gepriesen, steckt in einer tiefen Rezession. Obwohl das Land auf den ersten Blick noch immer das Bild eines wohlhabenden Landes vermittelt, stehen die 3,4 Millionen Einwohner vor einer ungewissen Zukunft. „A Third World New Zealand“ titelte angesichts der Misere jüngst sogar das US-Magazin 'Time‘.
Vor allem zwei Probleme belasten die wirtschaftliche Entwicklung des Agrarstaates. Neuseeland ist von seinen Agrarexporten abhängig; allein im Finanzjahr 1990/91 betrug der Anteil landwirtschaftlicher Erzeugnisse an den Gesamtausfuhren in Höhe von rund 11,2 Milliarden Mark noch über 60 Prozent. Das Land hat es noch immer nicht geschafft, seine nicht aus der Landwirtschaft stammenden Exporte wettbewerbsfähig zu machen. So wurden beispielsweise Häute und Felle im Wert von 559 Millionen neuseeländischen NZ-Dollars, aber lediglich Maschinen und Geräte in Höhe von 393 Millionen NZ-Dollar ausgeführt.
Zudem leidet das Land unter einer extrem hohen Verschuldung. Die Bruttoaußenverschuldung belief sich im letzten Jahr auf knapp 51 Milliarden NZ-Dollar, rund 20,5 Milliarden davon entfielen allein auf den Staat. Die Schuldenlast kletterte im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt auf 71,1 Prozent; das Verhältnis der Exporte zur Außenverschuldung stieg auf über 300 Prozent an. Immer größere Anteile der Exporterlöse müssen für die Leistung des Schuldendienstes verwendet werden.
1984 hatte die Labour-Party mit David Lange an der Spitze die konservative Regierung Robert Muldoons abgelöst. Unter der Ägide des damaligen Schatzkanzlers Roger Douglas wurde die Wirtschaftspolitik völlig umgekrempelt. Der Markt sollte fortan alles richten; staatliche Intervention wurde als Ursache der wirtschaftlichen Probleme ausgemacht. Die „Rogernomics“ griffen hart durch: Der Spitzensteuersatz wurde von 66 auf 33 Prozent gekappt, der Finanzsektor dereguliert, diverse Staatsfirmen einschließlich der Fluggesellschaft Air New Zealand und der Bank of New Zealand verkauft und eine Verbrauchssteuer in Höhe von 12,5 Prozent eingeführt. Darüber hinaus senkte die Regierung die Zölle drastisch und hob die Importquoten auf. „User pays“ lautete die Devise für staatliches Handeln. Überall witterten die Reformer schädlichen Staatseinfluß und schreckten auch vor Kleinigkeiten nicht zurück: Den beiden letzten Trägern des Victoria-Ordens aus dem Ersten Weltkrieg entzog die neuseeländische Eisenbahn sogar die lebenslang gewährte Freifahrtberechtigung.
Heute hat Neuseeland eine der am weitesten deregulierten Ökonomien der Welt, und vom neuseeländischen Wohlfahrtsstaat ist mehr oder weniger nichts übrig geblieben. Die Ergebnisse der Reformen sind allerdings ernüchternd: Zwischen 1985 und 1990 sank das neuseeländische Bruttosozialprodukt um 0,7 Prozent. Die Konsumenten können heute zwar unter wesentlich mehr Gütern als vor 1984 auswählen, aber es fehlt das Geld. Die Kaufkraft zum Erwerb der Güter ist rapide gesunken.
Selbst bei der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung hat Singapur, das vor 25 Jahren noch zu den armen Entwicklungsländern gehörte, Neuseeland längst überholt. Und während Singapur den Betrieb älterer Autos durch hohe Steuern praktisch verbietet, importiert Neuseeland die ausrangierten Fahrzeuge des asiatischen Nachbarn. Mehr als die Hälfte der 1990 zugelassenen Autos waren japanische Gebrauchtwagen. Neuseeland muß inzwischen sogar gebrauchte Autoreifen in großem Umfang einführen, da der Import neuer Pneus zu kostspielig ist.
Der seit Oktober 1990 amtierenden konservativen Regierung unter Premier Jim Bolger fehlen neue Ideen zur Überwindung der Krise. Aber wie bei Verfechtern der reinen Lehre üblich, werden die nicht konsequent genug angewendeten Marktmechanismen für die tiefe Strukturkrise des Landes verantwortlich gemacht. Finanzministerin Ruth „Ruthless“ Richardson hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Neuseeländer zur Privatinitiative auch bei der Alters- und Gesundheitsvorsorge zu veranlassen. Sie glaubt, die wirkliche Gefahr liege darin, die notwendigen Einschnitte ins soziale Netz zu vertagen. Die Regierung kann nur wenige Erfolge auf ihrem Konto verbuchen, so etwa die Senkung der Inflationsrate auf 2,2 Prozent im dritten Quartal 1991. Dafür steigt die Zahl der Arbeitslosen stetig: Mehr als 200.000 Menschen sind bereits ohne Arbeit; für 1992 wird ein Anstieg der Arbeitslosenquote auf über 13 Prozent erwartet.
Auch die Unzufriedenheit im Lande wächst. Der zur regierenden Nationalpartei gehörende Halb- Maori Winston Peters erklärte kürzlich, daß es keine überzogene Sichtweise sei, von der Gefahr der Verarmung auf Dritte-Welt-Niveau zu sprechen. Und der Präsident des neuseeländischen Gewerkschaftsdachverbandes, Ken Douglas, fügte hinzu, es sei lediglich angelsächsische Arroganz, die Neuseeland noch in der OECD halten würde.
Selbst Ex-Premierminister Robert Muldoon verabschiedete sich Ende 1991 aus der Politik mit scharfer Kritik an der Wirtschafts- und Sozialpolitik seiner konservativen Parteifreunde. Die Abschaffung von Subventionen für den Gesundheitssektor, gerade von seiner Partei beschlossen, wurde von Muldoon als Tragödie für viele Neuseeländer bezeichnet.
Neuseelands Hoffnungen liegen nun in einer Liberalisierung des Weltagrarhandels. Nur eine Beendigung des Agrarprotektionismus der Industrieländer, so die Wirtschaftsexperten, werde zu einer dauerhaften Verbesserung der wirtschaftlichen Situation führen. Geschieht dies nicht, dann könnte auch die politische Stabilität am schönsten Ende der Welt in Gefahr geraten.
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