Das Empire schlägt zurück

■ Rache und Blutrunst am Leibnizplatz: William Shakespeares „Titus Andronicus“

„War jetzt der Shakespeare ein Antisemit?“Foto: Marianne Menke

„War der Shakespeare Antisemit oder nur der Spiegel seiner Zeit?“ Die geschockte Besucherin, die nach dreieinhalb Stunden Blutrunst aus dem Theater am Leibnizplatz in die warme Nacht hinausstrebt, hatte „the most lamentable tragedy of Titus Andronicus gesehen, in der gibt es keinen Juden. Ausländer aber gibt es im Rom des Titus schon, und andere, als unsere Publizistik erlaubt. Die Besucherin ist zu Recht bestürzt.

Titus Andronicus (Norbert Kentrup), der (von Shakespeare erfundene) Feldherr des römischen Kaiserreichs, kehrt vom siegreichen Feldzug gegen die Goten heim. Deren unterworfene Königin Tamora (Dagmar Papula) und ihr geiler Mohr Aaron (Renato Grünig) sind die personifizierte Rache aller Unterworfenen und Besiegten, Aaron aus selbstlaufendem Haß, Tamora, weil Titus ihren Sohn als rituelle

hierhin bitte das Theaterfoto

kostümierter Mann vorn

fliehende nackte Gestalt hinten

Opfergabe töten ließ. Aaron lockt Titus' Söhne in die Falle, läßt den Vater für ihre Freigabe sich die Hand abhacken, — wie alle anderen Greuel auf offener Bühne — und schickt dann Hand nebst abgehackten Sohnesköpfen zurück, alles lebensecht aus Pappmache. Aaron hetzt auch Tamoras Söhne auf des Titus schöne Tochter Lavinia (Barbara Kratz): Vergewaltigen, Hände und Zunge abschneiden, alles bühnen-live.

Das Empire schlägt zurück, nun selber zum „wahnsinnigen Tier“ geworden, wie der Epilog sagt: Titus, als wär er von Kresnik, schächtet die Söhne der Gotin wie Schweine, seine geschändete Tochter Lavinia fängt das Blut in der Schüssel auf. In der Schlußszene läßt Titus die unwissende Mutter das Blut ihrer Söhne trinken und ihr Fleisch essen, alles echt, alles live. Wir immer dabei, mal sind wir nicht froh, mal la

chen wir roh (wie Shakespeares Publikum).

Warum das Gemetzel, der Rückfall der zivilisierteren römischen Herrschaft in die Blutgesetze der Rache? Bei Shakespeare banaler- und tragischerweise, weil Titus die Herrschaft dem Falschen überträgt. Er, der für die Staatsräson den eigenen Sohn absticht, macht den aufgeblasenen Schwächling Saturnius zum Kaiser (Christian Dieterle),der darin nur das Recht zur Vorteilsnahme sieht. Ohne falschen Kaiser kein Rückfall in die Barbarei.

Sowas Regierungsfreundliches reicht der shakespeare company natürlich nicht. Sieg und Herrschaft an sich ist ihr Problem. Wenn zu Beginn der siegreiche Titus einzieht, dann dick, kahl, schwarzhemdeskortiert und machotriefend wie Mussolini; und das rituelle Opfer des gotischen Königssohns wird zur Opferung des Fremdvölkischen auf dem Altar des Vaterlandes. Dies setzt die Kette der Racheakte in Gang, bis zum Schluß auf dem nämlichen Altar Titus und alle übrigen gemeuchelt liegen.

Für Regisseur Pit Holzwarth ist das, wie er im Programmvorwort schreibt, ein Menetekel für die Verteilungskämpfe um die goldenen Töpfe Europas in den 90er Jahren. „Der Klassenkampf innerhalb der Gesellschaften wird mehr und mehr zu einem Klassen- und Rassenkampf zwischen den Nationen.“ (Und wir Trottel hatten gedacht, der sei mit dem „Vaterland aller Werktätigen“ in die Grube gefahren.)

Das prognostische Geunke sieht man auf der Bühne aber nicht. Die Inszenierung ist gewohnt sorgfältig. Die Greuel der ersten Halbzeit sind natural- symbolisch gemacht, ein starker Hauch von Kresnikscher Tanztheatralik umgibt der Schändung der Lavinia (Effekt: zu Berge stehende Haare auf den Rezensentinnenbeinen).

Die zweite Halbzeit wechselt ins Groteske, versetzt die comicartig überzogenen Scheußlichkeiten mit volkstheatralen Einlagen. Das Ganze ist bloß eine Stunde zu lang.

Dennoch: Die Bühne der company mit der fahrbaren Rampe ist raffinierter geworden, die Kostüme opulenter, die tänzerischen Teile besser, die Albernheiten abgehakter, Kentrup tragödenbewußter, das Publikum lustbewußt wie je. Es lacht, wann immer es geht, und wenn nicht, auch. Viele Bravorufe. Uta Stolle