PREDIGTKRITIK
: Mit den 10 Geboten auf du und du...

■ ...in der Katholischen Studentenjugend

Ein kühles Schweigen oder schweigende Kühle empfängt mich beim Betreten der St.- Ansgar-Kirche im Hansaviertel. Der Bau ist ein Produkt der Bauausstellung von 1957, ein kühner Entwurf der Moderne, als die sich noch nichts dabei dachte: Schräge Wände und viel Sichtbeton, das war damals fortschrittlich, und nicht zuletzt deshalb mag die Studentengemeinde ausgerechnet hier ihre Vorabendmesse feiern. Sonntags beginnt sie übrigens erst um 12 Uhr mittags — man kennt seine Kundschaft.

Das Schweigen, die Stille: Ich komme etwas zu spät, aber daran wird sich hier niemand stören, denn ich bin auch nicht der letzte, der kommt, und bei Studenten geht es nicht so förmlich zu. Der Priester ist auch nicht zu entdecken — was ist bloß passiert? — Der eine schweigt mit geschlossenen Augen, der andere guckt betreten zu Boden, bloß ich, der ich nichts verstanden habe, nutze die Zeit zur Bewunderung des Blumenschmucks und des Miniorchesters im Altarraum: Drei junge Frauen, eine mit einer Klarinette, zwei mit Gitarre ausgestattet, warten auf ihren Einsatz. Nun taucht auch der Priester wieder auf und erklärt die Minute zur stillen Besinnung für beendet. Statt dessen wird nun das Gloria gesungen, was dem Damen-Trio zum Einsatz verhilft: Zuerst läuft mir der kalte Schauer der Erinnerungen an die Rockmessen meiner Kindheit über den Rücken, doch gewinnt auch das Kirchenlied Nr. 184 dank dieser Begleitung ungeheuer. Das klingt nach Aufbruch, ein bißchen Country- und Western-Stimmung. Und herrschte nicht eine ähnliche Stimmung — damals auf der Halbinsel Sinai —, als Moses die Zehn Gebote verkündete? — »Stichwort die Zehn Gebote«, so beginnt jedenfalls der junge Priester seine Predigt, »woran denkt ihr dabei?« Man beachte sein vertrauliches »ihr«, dann folgen seine Gedächtnishilfen: »An Blitz und Donner im Volke Israel? — An den tobenden Moses, der die Götzenbilder zerstört? — An Gott, der sagt: Du sollst! Du mußt!?« Solche Gedanken, sagt der Priester, liegen auf der Hand, denn nur allzu gerne würden die Zehn Gebote von Erziehungsberechtigten etc. gebraucht. Dabei wisse doch jedes Kind, daß es sich nicht gehört, unkeusch zu sein. Anscheinend befinden sich unter den jungen Gläubigen keine Studenten der Psychologie oder Sozialwissenschaften, denn niemand erhebt da Einspruch. Das täte der Priester gerne selbst, und zwar an folgendem Punkt: Die wissenschaftliche Erkenntnis aus der Religion sei heute nicht mehr gefragt, das habe selbst die Kirche gemerkt und sich freiwillig auf das Gebiet der Moral [Vor allem der Doppelmoral! d. säzzer] und Ethik zurückgezogen: Sie lasse sich nur über Fragen des Handelns aus, nicht aber des Glaubens. Dieser Ansatz kritischer Theologie bleibt zunächst folgenlos, denn noch fehlt zu den Zehn Geboten etwas, nämlich der einzelne, der sie befolgen soll: Ist das nicht zuviel verlangt für einen allein? — Die Frage ist auch die Antwort: Ja.

Was also tun, um der drohenden Verdammnis zu entkommen? — Hier führt der Weg über die Wissenschaft: denn, so unterstellt es der Priester, war nicht die ursprüngliche Bedeutung der Zehn Gebote anders? Besonders wenn man die jüdischen Gesetze im Hinterkopf hat? — Beispiel »Du sollst nicht töten!«: Bei den Juden war das Blut Gott vorbehalten, abgesehen von allen anderen Gründen, die gegen das Töten sprechen, wobei es eigentlich heißen müßte: Du sollst nicht morden! Beispiel Ehebruch: Bei den Juden bricht die Frau mit einem anderen Mann die eigene Ehe, der Mann die Ehe einer anderen: »Das klingt heute vielleicht ungerecht, aber dafür ist die Strafe bei beiden gleich.« Wenigstens etwas. Und auch beim Stehlen ist der Hintergrund, daß die Juden Landbesitz als Zeichen Gottes sahen.

Die Zehn Gebote, so resümiert der Priester, galten also eher der Regelung des öffentlichen Lebens, nicht für den Gelegenheitslügner. Darüber hinaus gehören Ehebruch und Mord nicht zum Alltag, was sagen uns da die Zehn Gebote heute noch? — Sie seien eben nicht als Drohung zu verstehen, sondern als Handlungsrahmen, den es positiv auszufüllen gelte. Und sollte man trotzdem mal über die Stränge geschlagen haben, dann greifen wir — im Gegensatz zu den Juden — zum Neuen Testament, in dem die Vergebung geschrieben steht: Man muß eben nicht alles wissen, man muß nur wissen, wo es steht. Doch selbst das geht der katholischen Theologie meistens schon zu weit. Lutz Ehrlich