Ängste werden geschürt mit der Sicherheitslüge

■ Serie: Die Linke und die Innere Sicherheit (Teil II)/ Die Gleichung »Mehr Polizei — mehr Sicherheit« ist unzutreffend/ Gesellschaftliche Umbrüche dürfen nicht zu einem Problem der Polizeidichte reduziert werden, vertritt der Innenpolitiker Wolfgang Wieland von den Grünen/Bündnis 90

Wenn über Kriminalitätsentwicklung und Sicherheit diskutiert wird, verabschiedet sich traditionell die Linke: Das Thema wird der politischen Rechten überlassen; eigene Vorstellungen, wie sicher die Stadt zu sein hat, werden kaum formuliert. Der Verfassungsrichter Klaus Eschen hat im ersten Teil der Serie die Verlogenheit der Linken gegeißelt: sie müßte die Polizei endlich als demokratische Institution anerkennen. Der nächste Beitrag erscheint am Mittwoch (d. Red.).

»Noch nie war die Stadt so unsicher wie unter Rot-Schwarz« — dieser Satz müßte den Herren Diepgen, Landowsky und Heckelmann eigentlich täglich grell in den Ohren klingen. Waren sie es doch, die außerordentlich erfolgreich einen Law-and- order-Wahlkampf gegen Rot-Grün führten. Weg mit den Hütchenspielern, Zigeunern, Jugendbanden — die Springer-LeserInnen dankten es im Westteil zu den Abgeordnetenhauswahlen im Oktober 1990 mit satten 49 Prozent der Stimmen. Berlin, so die damalige Botschaft, wird wieder clean. Um so größer ist die Enttäuschung nun. Geerntet haben auf dem von der CDU bestellten Ruhe- und-Ordnung-Acker bei den Kommunalwahlen am 24. Mai deshalb die Rechtsaußen.

Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei machte auf einer Protestkundgebung am 27.4. 92 folgende Feststellung: »Seit Jahren diskutieren wir über die ständig steigende Kriminalität und das Verkehrschaos in Berlin, das zu einer völligen Überlastung der Polizei geführt hat. Die Kriminalitätsentwicklung hat — wie wir meinten — 1991 den Rekordwert von 500.000 Straftaten erreicht. Nach den ersten drei Monaten 1992 wissen wir, es werden in diesem Jahr über 600.000 Straftaten in Berlin verübt werden... Die Privatisierung im Sicherheitsbereich, die dieser Senat konsequent vorantreibt, ist ein Weg in die Zwei- Klassen-Gesellschaft. Die Reichen werden sich ihre Sicherheit kaufen, und die übergroße Mehrheit der Bevölkerung muß mit dem vorlieb nehmen, was der Staat bereit ist, an Innerer Sicherheit zu gewährleisten. Die Bevölkerung muß wissen, ob sie das will. Ansonsten muß sie mit dem Stimmzettel reagieren, damit die Politik gezwungen wird, umzudenken.«

Als Wahlaufruf für die Grün-Alternativen wird Herr von Walsleben seine Äußerungen wohl nicht verstanden wissen wollen. Nach Baden- Württemberg und Schleswig-Holstein konnte sie nur als Drohung mit »110 — die Republikaner-Nummer« verstanden werden.

Feindbilder

Ist die Polizei damit wieder einmal am rechten Rand geortet, gibt sich die Linke traditionell polizeikritisch. Jeder Politikbereich, der die Finanzierung von Mehrausgaben aufzeigen soll, verweist mit schöner Regelmäßigkeit auf den Polizeietat, als handele es sich um ähnlich unstreitig Sinnloses wie den Jäger 90 oder die Rasenheizung für das Olympiastadion. Andererseits soll sie natürlich da sein: beim Schutz von Schwulen- und Lesbenfeten, bei der Sicherung der Heime von Asylbewerbern, in U- und S-Bahn, beim Aufspüren der Umweltkriminalität, gegen Miethaie, die sich anschicken, per Manipulation am Gasrohr ihre Mieter in die Luft zu jagen, usw. usf. Stereotyper Vorwurf: Gerade da tun sie nichts. Stereotype Entgegnung, nicht nur von Gewerkschaftsseite: Dann brauchen wir mehr Personal, bessere Bezahlung, bessere Zusammenarbeit und Akzeptanz, gerade mit und von Ihnen.

Die Bedingungen für eine vorurteilsfreie Untersuchung polizeilicher Effizienz sind also denkbar schlecht. Versucht wird sie dennoch.

Das vereinte Berlin verfügt über rund 25.000 Polizeiangehörige, davon 12.300 Schutzpolizisten, 2.400 Kripobeamte, 1.900 Wachpolizisten, 7.000 ehemalige Vopos als Schutzpolizei inklusive Betriebsschutz, 1.500 ehemalige Vopos als Kriminalpolizei. Es ist davon auszugehen, daß rund 1.000 Vopos nicht übernommen werden, weniger wegen Stasi-Verstrickungen oder Verstößen gegen humanitäre Prinzipien als wegen fehlender Polizeitauglichkeit in körperlicher und geistiger Hinsicht.

Berlin bleibt damit die Stadt mit der größten Polizeidichte Europas. Auf einen Polizeiangehörigen kommen 144 Einwohner. Bundesdurchschnitt ist ein Verhältnis von 1 zu 355, andere Stadtstaaten weisen ein Verhältnis von 1:187 (Hamburg) oder 1:237 (Bremen) auf. Dies schlägt sich auch in den Kosten nieder. In Berlin zahlt jede/r BürgerIn 465,70 DM pro Jahr für die Polizei, im Bundesdurchschnitt bloß 223,70 DM, weniger als die Hälfte. (Zahlen nach Dr. Uwe Höfft »Was kostet die Polizei?«, Cilip 39/83)

Wäre die Gleichung der Gewerkschaften der Polizei »Mehr Polizei — mehr Sicherheit« zutreffend, Berlin müßte der sicherste Ort in Deutschland sein. Daß Berlin jedoch zur Spitzengruppe der Kriminalitätshäufigkeit gehört — die laufende Nummer 3— zwingt zu der Erkenntnis, daß die Polizeidichte für das Auftreten von Kriminalität recht gleichgültig ist. Sonst wären Kriminalitätszuwächse von 100 Prozent bei Straftaten gegen das Leben von 91 zu 92 nicht erklärlich.

Kosmetik

Innensenator und Polizeipräsident reagieren auf die jährliche Kriminalitätsstatistik — ihre grandiose Mißerfolgsbilanz — zunächst mit Schönfärben. Aus einem Anstieg der Kriminalitätszahlen absolut im Ostteil und im Westteil der Stadt wird ein Sinken der Kriminalitätsrate insgesamt. Lernt man in der Schule, daß minus mal minus plus ergibt, wird bei Heckelmann aus plus und plus minus. Er rechnet mit einem Bevölkerungszuwachs von 60 Prozent gegen einen Straftatenanstieg von 34 Prozent und erreicht einen Rückgang der Kriminalitätsbelastung um 14 Prozent. In Wahrheit haben die Ossis nur nicht ganz so schnell kriminalitätsmäßig aufgeschlossen, sind aber auf dem besten Wege.

Darüber hinaus wird mit einer »Aktion saubere City« auf die verbreiteten Ängste von Bürgerin und Bürger reagiert. Massiv wurde das Sicherheitspersonal in U- und S-Bahn verstärkt: 246 private Sicherheitskräfte mit 100 Hunden rund um die Uhr, mobiler Ordnungsdienst der BVG mit 123 Personen, unterstützt durch 63 Polizeibeamte, geplante 400 bis 500 ABM-Kräfte als »Fahrgastbetreuer«.

Dies mag das Sicherheitsgefühl der Passagiere tatsächlich erhöhen, unter dem Strich wird Kriminalität damit aber nur örtlich verlagert, unter dem Strich geschieht keine einzige Straftat weniger. Mit Programmen für den Breitscheid- und den Alexanderplatz — mit Hilfe einer Privatschlägertruppe, unter der Reichskriegsflagge im Europacenter logierend — wird einem Kriminalitätsverdrängungsaktionismus gehuldigt, der mit der Vertreibung der Drogenszene aus dem Ku'damm-Bereich bereits vor Jahren seine zweifelhaften Erfolge zeitigte.

Gesellschaftliche Wurzeln

Endpunkte einer solchen Entwicklung sind in den USA abzulesen. Ganze Stadtteile werden aufgegeben, die Sicherheit wird zunehmend privatisiert. Geschützt wird — im Villenviertel, im Hochhaus — wer dafür löhnt. In den neuen Bundesländern schießen private Wachdienste wie Pilze aus dem Boden, gespeist von Ex-Tschekisten und NVA-Uniformträgern. Die bundesrepublikanische Gesellschaft befindet sich in einer Runde innerer Aufrüstung, nicht nur die Jugendgangs greifen wie selbstverständlich zur Bewaffnung. Die gutgemeinten Appelle »Schmeißt die Waffen weg« wirken eigentümlich hilflos.

Jede Gesellschaft hat die Jugend, die sie verdient, jedenfalls die, die sie hervorgebracht hat. Staatliche Repression behebt dieses Problem nie. Keiner Diktatur gelang es je — auch um den Preis der vollständigen Aufhebung der bürgerlichen Freiheitsrechte nicht —, Kriminalität verschwinden zu lassen. Neben dem Morden im Auftrag des Staates — und das forderte noch immer die weitaus meisten Opfer — wurde immer auch privat gemordet. Wenn nunmehr in den GUS-Staaten die Kriminalität explodiert, liegt dies weniger am Wegfall der Daumenschrauben als am Totalzusammenbruch der sozialen Strukturen.

So lange Berlin Insel in der Armutsregion neue Bundesländer ist, dicht an der Wohlstandsgrenze zu den ehemaligen Ostblockländern gelegen, so lange wird Berlin auch Hauptstadt des Verbrechens sein. Sicherlich kein Trost für den aus der S-Bahn geworfenen Berlinbesucher, für die vergewaltigte Krankenschwester oder die in der Wohnung überfallene Achtzigjährige.

Aber jeder Politiker, der diese Verbrechen auf das rein Kriminelle reduziert, verspricht, mit nur polizeilichen Lösungen derartiges in Zukunft zu verhindern, redet gegen jede Erfahrung, lügt im Zweifelsfalle. Wer sich durch Verbrechen bedroht sieht, muß die sozialen Ursachen des Armutsgefälles im Auge behalten, auch wenn dies im Einzelfall schwer ist. So sieht die deutsche Schülerin bei ihrem türkischen Mitschüler nicht den Immigrantenhintergrund, die ungesicherte Statusfrage, die fehlende politische Teilhabe, sondern Machotum, Dreistigkeit und Brutalität. Denen geht es doch nicht schlecht, sondern offenbar viel zu gut, ist die naheliegende Antwort. Die Jugendgangproblematik ist dann im Bewußtsein schnell auf ein Polizeiproblem reduziert.

Umbruchzeiten sind Zeiten der Ängste, der Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit. Konjunktur für Law-and-order-Strategen, warum sollte dies gerade in Posemuckel anders sein?

Wolfgang Wieland ist innenpolitischer Sprecher der Abgeordnetenhausfraktion von Grüne/Bündnis90