Mit der Ordnungskraft auf du und du

Die Moskauer Verkehrspolizei nutzt ihre Autorität zu schnellen Geschäften/ Die 20.000 Milizionäre haben grundsätzlich immer recht / Bei Widerspruch droht ein „Protokoll“ und der Verlust des Führerscheins  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

Der Schlagstock schießt vor, Körper und ausgestreckter Arm bilden einen Winkel von 75 Grad. Die Rechte mit der Ordnungsprothese vollzieht den zackigen Abwärtsschwenk — nur aus dem Handgelenk — wie auf dem Court, unmittelbar vorm Netz: gerade noch erwischt. Ein stechender Pfeifton...“ Erzählte neulich ein englischer Kollege mit insulanischem Kollektivhumor. Wie tausendmal zuvor war er auch an diesem Morgen wieder Opfer der Moskauer GAI geworden. Hinter dem Kürzel verbirgt sich die „Gosudarstwennaja Awtomobilnaja Inspektsija“, die russische Verkehrspolizei. Zu Zehntausenden lungert sie an den hauptstädtischen Ecken herum. Ja, lungert — buchstäblich. Auch in diesem Schreckensmoment fragte er sich: Was hab' ich denn nun schon wieder...? Nichts, natürlich. Der Milizionär folgte einem anderen Ansinnen. Der Satz Reifen, den er noch zuhause hatte, könnte — so glaubte er — genau auf dieses Modell passen. Er suchte einen Käufer.

Ein klassischer Fall von „intentionaler Rationalität“, sozusagen. Wobei wir „rational“ als zweckbewußte Selbststeuerung begreifen müssen. In der Person dieses russischen Milizionärs haben wir es mit einer Mischform zu tun. Beschränkte sich die Zweckrationalität des Adels auf politisch-moralische Belange, die des heranreifenden Bürgertums auf wirtschaftliche Aktivitäten, greift der Polizist auf die ihm kraft Amtes überkommene Autorität zurück, um „ökonomisch“ erfolgreich zu sein. Aber! Er zeigt schon ein Stück zukunftsweisender Selbständigkeit. Er will verkaufen, nicht erpressen. Damit ist viel gewonnen und eine weitere Entwicklungsstufe erklommen. Der russische Milizionär avanciert zur Keimzelle des Kleinunternehmertums. Natürlich gehört dieser zur Avantgarde. Die meisten seiner rund 20.000 Kollegen sind noch nicht soweit. Sie bessern ihr Salär auf qua Autorität, verharren in der Geschichte. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Jeder klagt über den miesen Verdienst, dabei wissen alle: Diesen Beruf ergreift man, weil die Gesetzeslage den Straßenraub legalisiert und das auch noch risikofrei. Vor der Erhöhung der Bußgelder rechnete ich mit rund 500 Rubeln monatlich ohne nennenswerte Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung. Bei eklatanten Zuwiderhandlungen, wie unerlaubtes Linksabbiegen, was besonders streng geahndet wird, kann es den Schnitt locker um das Doppelte übersteigen. Aber es ist ja schließlich für eine gute Sache. Für die Ausbildung der Kinder oder auch nur für Vitamine...

Schrillt die Trillerpfeife eines Eckenstehers, so bringen die Russen ihren Wagen sofort zum Stehen. Noch im Ausrollen öffnen sie die Türen, springen aus dem Wagen und bewegen sich im Laufschritt auf den Kameraden zu. Wobei sie schon die Papiere aus den Taschen ziehen. Der Polizist seinerseits kommt gemäßigten Schrittes auf den Delinquenten zu. So will es das Protokoll. Dann beginnt das kommunikative Ritual — man bestätigt sich gegenseitig die Erwartungserwartungshaltung. Denn alles steht fest. Der Milizionär hat recht, gezahlt werden muß auf jeden Fall. Doch die Bereitschaft zur Selbstkritik kann manchen Schein retten. Will man etwa diskutieren, wie ich trotteliger Prinzipienreiter anfangs, nimmt das gewöhnlich ein böses Ende. Der Milizionär schreibt dann das gefürchtete PROTOKOLL. Mit andern Worten, er zieht den Führerschein ein. Man erhält eine Quittung, zahlt die Strafe bei einer Sparkasse ein und macht sich dann auf die Suche nach dem Führerschein...

Ich steige grundsätzlich nicht aus. Bin aber nicht mehr so renitent wie früher. Neulich fuhr ich dennoch einfach weiter, als hätte ich nichts gehört. Die Zeit drängte. Nach drei Kilometern quietschten hinter mir die Reifen. Einem Privatwagen entstieg ein voluminöser schnaufender Ordnungshüter. Gefährtlose Polizisten müssen von den Bürgern auf Wink befördert werden. Er machte mich regelrecht zur Sau. Gab sich beinhart, PROTOKOLL, rien ne va plus. Erst auf das honigsüße Gesäusel meines russischen Begleitschutzes zeigte er ein Einsehen: „Popolam“ — Halbehalbe. Ich geb ihm das Geld, er behält dafür die Quittung. Ein guter Deal. Am Abend dann wieder so eine Pfeife — nach dem Restaurantbesuch. Er schaut in die Papiere und grinst: „Klaus, ... Du... Schnaps?!“ auf deutsch. Er grinst unaufhörlich, freut sich über seine Sprachfertigkeit. „Nix Schnaps “ wiederholt er, reicht die Papiere zurück und freut sich. Er genoß es, kulant zu sein. Er hatte sich für diesen Tag selbst belohnt — immateriell. Auch das braucht ein Milizionär. Man stelle sich das gleiche bei uns vor, wo nur das Gesetz regiert. Undenkbar, aber wie langweilig! Nichts geht über die Gewissensfreiheit eines russischen Milizionärs!