In schiefer Schlachtordnung

■ Wie Stasi- und Vergangenheitsdebatte gesamtdeutsch werden

Verfolgt man die deutsch- deutschen Urteile über Schuld und Verantwortung an der Hypothek einer weiteren 40jährigen deutschen Diktatur und die unwürdigen Szenarien des Vereinigungsprozesses, könnte man glauben, in verschiedenen Realitäten zu leben. Für die einen ist es ausgemacht, daß die eigentliche Katastrophe nicht die DDR war — sie hatte ja immerhin auch ihre Errungenschaften —, sondern die Kolonisatorenmentalität des Westens. Andere sprechen von der Notwendigkeit der Reinigung und möchten die Ostdeutschen am liebsten ins Ghetto der Vergangenheitsbewältigung hineindirigieren.

In Wirklichkeit ist die Debatte längst so gesamtdeutsch geworden, wie die Sache, die ihr zugrundeliegt. Dieser Entwicklung trägt ein Sammelband Rechnung, der von der Publizistin Cora Stephan herausgegeben wurde und den man auf die Nachttische möglichst vieler Deutscher in Ost und West legen sollte. Bereits die Herausgeberin räumt couragiert mit einer Menge Denk- und Sprechblasen des intellektuellen Diskurses auf und nimmt die linken Wehleidigkeiten in Sachen Vereinigung aufs Korn. Vor allem zeigt sie, daß die Stimmungs- und Diskussionslage genau entgegengesetzt zur behaupteten verläuft. Nicht das Übermaß der Angriffe in puncto Vergangenheit droht die Ostdeutschen zu überwältigen; ihnen schlägt aus dem Westen eher eine „sozialpflegerische Betulichkeit“ entgegen, die sie in ihrer Opferrolle förmlich hätschelt. Es gibt eine deutsch-deutsche „Schlußstrich-Mehrheit“, für die „jede realsozialistische Schweinerei verblaßt angesichts der Propagandaschlacht der westdeutschen Medien“.

„Der Westen arbeitet mit Hilfe der Stasi-Debatte Eigenes auf“ — diese Feststellung Cora Stephans durchzieht auch andere Beiträge des Sammelbandes. Karl-Otto Hondrich versucht in einem Aufsatz des Sammelbandes bestimmte Phasen und Etappen der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland herauszuarbeiten. Mit dem Bild vom langen ruhigen Fluß bestimmt er einen Eigenrhythmus kollektiven Lernens, der sich pädagogischen Bemühungen um Beschleunigung oder Aufhalten widersetzt.

Nur schade, daß Hondrich dann doch wieder verführt wird, seine kluge Differenzierung von Verhandlungsgeheimnissen, Unrechts- und Staatskomplizengeheimnissen nicht konsequent zu nutzen und der Resignation anheimfällt. Es mag zwar faktisch richtig sein, wenn er feststellt, daß die Regeln des Richtigen nicht mit der Gerechtigkeit identisch sind und dem Streben nach Gerechtigkeit enge Grenzen gezogen sind. Man sollte diese Grenzen aber nicht schon vorauseilend errichten.

Claus Leggewie und Horst Meier versuchen, an den Problemen rechtsstaatlicher Aufarbeitung von Unrecht, das in anderen gesellschaftlichen Verhältnissen begangen wurde, die Unmöglichkeit nachträglicher Ahndung in konsequenter Form aufzuzeigen. Rechtsstaatlichkeit müsse oft als Täterschutz erscheinen, weil ein Strafrecht, das auf den individuellen Exzeß abstellt, sofort versage, wo der Exzeß zur „Regierungssache erklärt und kollektiv organisiert werde“. Der Staat als Räuberbande könne nur durch rückwirkende Sondergesetze bekämpft werden. Die Grenzen des Rechtsstaates seien in der Sanktion individueller Gesetzesübertretungen vorhandener Gesetze erschöpft, Foren und Tribunale zur Vergangenheitsaufarbeitung kämen bestenfalls eine pädagogische und kathartische Wirkung zu. Was darüber hinaus bliebe, seien begrenzte Mittel wie Überprüfungen und Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst und der partielle Ausschluß von der politischen Teilhabe. Man hat das Gefühl, Leggewie und Meier hören dort resigniert auf, wo das Problem erst spannend wird, denn der Verweis auf die Hürden der Aufarbeitung nach 1945 muß ja nicht zwingend zur erneuten Selbstbegrenzung verführen.

Henryk M.Broder und Chaim Noll widmen sich in zwei Aufsätzen der deutsch-deutschen Verdrängergemeinschaft unter Intellektuellen und Schriftstellern. Das Material dazu liegt so überreichlich vor, daß dem polemischen Talent keine Zügel angelegt werden müssen. Es gab ihn wirklich, „den betörenden Charme der Diktatur“, von dem Broder schreibt. Der greise kommunistische Intellektuelle, von seinen Kindern befragt, wann er denn endlich seine ehrlichen Memoiren schreibe, antwortet, er könne es nicht, weil es ihm viel zu weh täte zu zeigen, wie oft er gegen die Partei recht behalten habe, ist keine Erfindung von Pamphletisten. Der Begriff der Treue, von dem Chaim Noll schreibt, hat für das geistige Leben der realsozialistischen Intelligenz und ihrer westlichen Freunde entscheidende Bedeutung gehabt. Die Treue zur Partei und die „Treue zur Sache“ haben Selbsterniedrigung und Kollaboration bis zum Schluß „geadelt“.

Tilman Fichter und Peter Glotz kämpfen in schiefer Schlachtordnung gegeneinander, wenn sie am Verhältnis zur nationalen Frage die Tiefen und Untiefen von Ost- und Entspannungspolitik diskutieren. Sie tauchen als Kontrahenten in zwei weiteren Beiträgen des Sammelbandes auf, wobei Fichter, souverän und berechtigt, zunächst die Patina von den Erben Willy Brandts erntfernt. Helmut Schmidts „realpolitischer Kotau“ vor dem polnischen General anläßlich seines Honecker-Besuches in Güstrow ist ebenso Fakt wie die Überschätzung der Lebenskraft und Stabilität der DDR noch in den achtziger Jahren. Wenn heute ein Mann wie Jürgen Schmude Persilscheine für den uneigennützigen Rechtsanwalt Wolfgang Vogel — den „ehrlichen Makler“ — sammelt, ist das nur der traurige Nachklang einer problematischen Politik. Ihr Kern ist aber nicht auf ein falsches Verhältnis zur nationalen Frage und zur Wiedervereinigung zu bringen, wie es bei Fichter/Glotz anklingt. Man mußte weder leidenschaftlicher Deutscher noch Patriot sein, um die „Dimension der Freiheit“ und die Achtung der Menschenrechte hochzuhalten. Ob die Demokratie sich nun in „Deutschland einig Vaterland“ realisiert oder in einem Deutschland ohne Mauer und politische Geheimpolizei, das sich längst auf den Weg nach Europa gemacht hat, wird von der Zukunft entschieden.

Klaus Hartungs Schlußaufsatz gehört zum Spannendsten am ganzen Buch. Er zeigt, daß die derzeit verbreitete feste Täter-Opfer-Relation nicht nur in der biographischen und anderweitigen Relativierung ihre Tücken hat. Sie nimmt den Betroffenen vielmehr die Kraft, den Vereinigungsprozeß als Befreiung zu erfahren. Die Opferkategorie wird bereits jetzt in unzähligen Fällen in die Zukunft gewendet und die wirklich schwierigen Probleme der Umstellung durch die subjektive Erleidensdisposition als neue Gewalt und Übermacht empfunden. „Die Vereinigung gilt als soziale Katastrophe, die der Westen zu verantworten hat.“ Das System einer „totalitären Daseinssicherung“ was zur nahezu totalen Entmündigung verhalf, wird in Ost und West bereits wieder als Errungenschaft gepriesen. Die tatsächlich zersetzende und destruktive Macht des Kapitalismus wird nur als solche verstanden und nicht nach der Seite dessen, was sie freisetzt, nach der Seite ihrer produktiven Kraft gesehen. Auf dieser Seite wächst aber eine neue Realität, die auch von der alten Bundesrepublik nicht so wahnsinnig viel übriglassen wird. Wolfgang Templin

Wir Kollaborateure , rororo aktuell 1992, DM 9,90

Der Autor ist Mitglied von Bündnis 90