Laß es raus

Jürgen Kruse inszeniert Sam Shepards Stück „The Unseen Hand“ in Freiburg  ■ Von Martin Halter

Gott vergißt, Django nie. Auf den Tag genau vor fünf Jahren hatte sich Jürgen Kruse an der Berliner Schaubühne mit Sam Shepards The Unseen Hand, einer ziemlich kruden Mischung aus psychedelischem Western und Science-fiction, „verhoben“. Diese Scharte galt es auszuwetzen, und wenn am Himmelfahrtstag das ganze Freiburger Stadttheaterpublikum mit ihm zur Hölle fahren sollte. 2.000 Spielzeugpistolen samt Gebrauchsanleitung („Schießen Sie nur, wenn Sie das Ziel genau erkannt haben“) — die Munition gab es „aus Sicherheitsgründen“ freilich erst nach der Vorstellung — ließ der Regisseur für den Tag der Vergeltung verteilen. Vor allem aber hatte Jürgen the Kid diesmal nicht nur seinen Dämon, Doc Carl Georg Hegemann, als schießfreudigen Dramaturgen an seiner Seite, sondern auch eine Anne Tismer, die im Anschluß an das — freilich nicht eben umwerfende — „Profane Ritual“ Shepards mit der Combo „Riders of the Rainbow“ ein höchst beachtliches Debüt als Rocksängerin gab: Sie näselt und kiekst vor allem die Hillbilly- und Westernschnulzen („He was my first und last real Cowboy“) so naiv ergreifend, daß man ihr fast eine Musical- oder Showkarriere prophezeien möchte: Annie, get your gun.

Ob man mit Pengpeng und einem Rockkonzert freilich so viel Jugend gewinnt, wie man auf der anderen Seite an genervten Senioren verliert, steht auf einem anderen Blatt. Dabei passen in diesem Falle die Rockklassiker und Countryballaden mehr als bei jedem anderen Kruse-Soundtrack zu einem Stück, das eher durch Rhythmus, „frontier feeling“ und die Trivialmythen des Westerns zusammengehalten wird als durch irgendeine abendländische Logik. Sam Shepard, der meistgespielte US-Dramatiker, der als „lonesome cowboy“ von altem Schrot und Korn wie sein Travis in Paris, Texas immer unterwegs ist auf der Suche nach Heim und Herd und Familienzusammenführung (oder wenigstens einem sauberen Schuß), schätzt Männervergnügen wie Pferdezüchten und Rodeo bekanntlich mehr als all den Kultur-Bullshit, zu dem er mit mehr als 40 Theaterstücken, zahlreichen Filmdrehbüchern und -rollen (Homo Faber) seinen Teil beigetragen hat. Aber, um mit den Rolling Stones zu reden, „What can a poor boy do except singing in a Rock'n'Roll band?“ „Eigentlich“, verkündet Shepard heute bei jeder Gelegenheit, „eigentlich wollte ich Rock'n'Roll-Star werden.“ Und vor gut 20 Jahren, als er The Unseen Hand improvisierte, war er als Freund (und Textschreiber) von Patti Smith und Aushilfsschlagzeuger bei den Stones, den Who und Bob Dylan auf dem besten Weg dorthin.

Das Stück muß damals nach einer vollen Dröhnung — Drogen oder Rock — entstanden sein: Es atmet, auch wenn Kruse es jetzt in Richtung Cyber-Punk und virtuelle Computerrealität aufpeppen will, den Geist und die verlorenen Illusionen der sechziger und frühen siebziger Jahre. Auf einer Müllhalde nahe dem— tatsächlich in Kalifornien existierenden — Kaff Azusa („Alles von A bis Z in den USA“) haust in einem Autowrack Blue Morphan (Christoph Hofrichter), letzter Überlebender einer Bande von Zugräubern und Desperados, denen 1886 der Garaus gemacht worden war. Der Hippie-Methusalem, der den guten alten Zeiten nachtrauert, als die Männer noch Männer waren und für alle Fälle einen Colt im Halfter stecken hatten (für Frauen gibt es in Shepards Kosmos so wenig Platz wie neben John Wayne), wird von Willie, dem intergalaktischen „Space Freak“ (Anne Tismer), aus seiner nostalgischen Gammler-Lethargie gerissen. Der fixe Gnom gehört zu einer Rasse von Halbaffen, die von ihren hyperzivilisierten Herren, den „Stummen“ von Nogoland, als Arbeitstiere gezüchtet wurden, dann aber dank eines „Programmierungsirrtumsfehlers“ menschliche Gefühle und rebellischen Geist entwickelten. Niedergedrückt von der „unsichtbaren Hand“, die jeden eigenständigen Gedanken mit Muskelspasmen bestraft, sucht der mutierte Android auf Erden Helfershelfer für den Befreiungskampf in Nogoland — und wer wäre als Erlöser besser geeignet als die Robin Hoods fernsehloser Äonen? Der ferngesteuerte Kobold, Vorkämpfer aller Verdammten des Weltalls, weckt Blues Brüder Cisco (Hanno Meyer) und Sycamore (Jürgen Rohe) aus ihrem Dornröschenschlaf, und die drei Revolvermänner zeigen sich auch bald willens, sich den Weg zur planetarischen Heilstat anachronistisch freizuschießen.

In ihrer Entschlossenheit lassen sie sich auch durch den Auftritt Kids nicht irremachen: Der Highschool- Cheerleader in der heruntergelassenen Hose, eine gefährliche Mischung aus fanatischem Guerillakrieger („Schlag zu und hau ab“), windelweichem Mamasöhnchen und „All American Boy“, betet vor den „stinkenden Zombies“, die seine Ahnen repräsentieren und seine Mami in den Schmutz ziehen, die Litanei der amerikanischen Werte herunter („Ich liebe die Drive-in-Kinos und die Bowlingbahnen und die Footballspiele und die Mädchen und den Donutladen und die Jugendhandelskammer...). Und siehe da: Als Willie das Yankee-Credo rückwärts spricht, wird er durch diesen Akt kabbalistischen Wortzaubers vom Knopf in seinem Ohr befreit; wenn die Sprache die „Quelle aller Mißverständnisse“ ist, so sind es doch auch ihre Mantras, die neben der Musik am ehesten Abhilfe schaffen. Kid überlebt den Exorzismus nicht. Blue und Cisco suchen erleichtert — „Frei! Yipee! Wahoo!“ — das weite; nur Sycamore fläzt sich wieder auf die Rückbank des Cabrio-Wracks und murmelt, was sein Bruder am Anfang mümmelte und damals auch die Beatles sangen: „Ich bin langsam, von Natur aus... Laß die Welt allein. Laß es sein.“

Man kann viel in diese Karl-May- Festspiele auf der Müllhalde hineininterpretieren: eine Kritik des amerikanischen Traums und eine komische Apologie des Marlboro-Man, den Angriff von Vergangenheit und Zukunft auf die erbärmliche Gegenwart und womöglich auch das Revolverduell zwischen den Phantomwesen der virtuellen Realität und den echten Kerls. Am besten aber räumt man die Ballermann-Comics und den psychedelischen Flower-power- Schmonzes beiseite und läßt die Bilder auf sich wirken. Sie sind eindrucksvoll genug, banal und großartig und romantisch verkitscht wie alle Abziehbildchen des amerikanischen Mythos; der abgetakelte 51er Chevy mit dem „KILL AZUSA“-Graffito ist Zentrum und Prunkstück des Bühnenbilds von Stefan Mayer. Die „langweiligen Scheißgrillen“ zirpen ihren Blues. Die Staubmäntel und Ponchos (Kostüme: Caritas de Wit) der Banditen geben vor dem Nachthimmel eine männlich-herbe Kulisse ab, ihre silbernen Sporen blitzen an den Stiefeln auf, und ihre Colts versprechen großmäulig die Lösung jedweden Problems: Love and peace. Wenn die Morphan-Brüder an Kino-Westmänner wie Fuzzy, Django oder Wyatt Earp erinnern, so ist diese Ähnlichkeit beabsichtigt: „War sowieso unrealistisch, von Anfang an, irgendwie.“ Der permanente Showdown der Klischees macht den Schauspielern um so mehr Spaß.

Kruse, das ist vielleicht das Überraschendste an dieser Inszenierung, hat ausgerechnet bei seinem Leib- Stück mehr Disziplin und Zurückhaltung bewiesen als zuletzt bei seinem verkrachten Timon. Die albernen Wortspiele („Andy war hohl“) und Hardrock-Einlagen, die Cowboy-Posen und pubertären Manierismen sprengen diesmal nicht jedes Maß, sondern fügen sich ins Konzept: archaische Mythen und erspielte Authentizität als Gegengift gegen eine hybride Zivilisation. Es geht nur eine Gitarre zu Bruch, und selbst das gehört nur zu den Reminiszenzen an die rebellische Zeit des Rock. Sogar Anne Tismer spielt diesmal nicht nur den somnambulen Irrwisch, sondern verkörpert — verständlich noch in ihrem animalischen Schluckauf und so „individuell“, wie es bei Comicfiguren und Typen der US-Mythologie eben noch erlaubt ist — die Ausgeburt der schönen neuen Welt: halb Tier, halb Willie.

„Is' ja gut, Junge, laß es raus!“ möchte man dem jungen Wilden mit dem alten Blue immer zurufen. Aber Kruse hatte diesmal für seinen bösen Blick ins Publikum die berüchtigte Lederjacke mit einem schwarzen Jackett vertauscht und sich sogar eine Krawatte umgebunden. Auch wenn Sie nach der Vorstellung endlich die Schreckschüsse für Ihr Pistölchen bekommen haben: Schießen Sie nicht auf den Regisseur!