Der Verbrauch aller Irrtümer

■ „Im Dickicht der Städte“ von Bertolt Brecht

Die Bücher sind diesmal nicht wichtig, in der Leihbibliothek zwischen Maschinen, dampfenden Rohren und Metalleitern. Garga, der Angestellte mit den Kopfhörern, ein schmaler, weißblonder Mann im Proletenunterhemd, bringt das Bücherregal selbst zum Einsturz. Er verweigert sich der Gewalt der Gangster von der Straße ebenso wie den Verlockungen des Malaiien Shlink nicht um seiner unverkäuflichen Ideen willen, sondern aus reinem, zähen Trotz. Laut ist die Stadt Chicago, immer wenn sich eine Tür öffnet, und armselig. Zwischen den Maschinen und auf dem Schrottplatz unter bläulichem Himmel, auf den sich die Bühne öffnet, wenn die eiserne Rückwand beiseite gezogen wird, kehrt nur selten Stille ein, ebensowenig wie in der Wohnküche von Gargas Familie oder im chinesischen Bordell mit goldenen Drachen, Perlenvorhängen und Bar, und die Menschen, Gangster, Huren und kleine Leute, sind schillernd und schäbig. Daß sie dennoch so scharfe Konturen gewinnen, so unverwechselbar und lebendig werden und daß die Geschichte dieses verbissenen Kampfes das Publikum bis zuletzt in Atem hält, ist das Ergebnis vieler Elemente; alle zusammen setzen sie einen glänzenden Schlußpunkt hinter Andras Fricsays glücklose Zeiten als Bremer Oberspielleiter.

Garga nimmt den „Kampf“ mit Shlink auf, weil er sicher sein will, daß eine „neue Haut“ nichts ersetzt. Wie unter Zwang will er beweisen, daß Freundlichkeit, Großzügigkeit, Vertrauen nichts ändern werden, denn nur in der Negation ist er erkennbar. Gegenstand dieses „Kampfes“, dem in vielen Inszenierungen immer neue, oft schwer nachvollziehbare Bedeutungen auferlegt wurden, ist hier der Nachweis der Veränderbarkeit des Menschen. Gargas destruktives Wüten gegen Shlinks kleinen Wohlstand, den Erfolg seines Holzhandels und seiner lebenslangen, zähen Arbeit wird zum Bild dafür, wie ein Mensch gegen die Konventionen des Lebens rebelliert; angetrieben von der irrationalen Hoffnung auf Erlösung jenseits aller Vernunft widersetzt er sich jeder Erkenntnis bis zur endgültigen Zerstörung aller seiner Grundlagen.

Regisseur Andras Fricsay und sein Ensemble hatten den Mut und haben sich offenbar auch die Zeit genommen, in ihrer letzten Produktion Brechts Stück vom Dickicht der Städte auf diese Wahrheit hin zu überprüfen, und es gelang ihnen, auf alles Überflüssige zu verzichten, nicht nur im Umgang mit dem Text, sondern im ganzen Bogen des Spiels bis zum Ende, wenn Teile der Bühne unter Katastrophengetöse einstürzen— die Welt ist aus den Fugen geraten. Straßen- und Maschinenlärm bilden den Hintergrund, Orkan- und Hubschrauberdröhnen setzen kluge Zäsuren ebenso wie mitunter winzige, zauberhafte Klänge: Die Katastrophe kündigt sich an, und manchmal begreift oder wünscht jemand etwas, fast wie im Traum (Musik: Uli Harmssen).

„Wenn die Irrtümer verbraucht sind“, schrieb Brecht an die Nachgeborenen, „sitzt als letzter Gesellschafter uns das Nichts gegenüber.“ Gargas Rebellion gegen die Übernahme von Shlinks Leben ist choreographiert wie ein Tanz um den Verbrauch aller Irrtümer — über die Frauen und die Familie, den Austausch von Stärke und Schwäche, über die magische Möglichkeit von Nähe, selbst im Schmerz. Das Stück wird in Fricsays Inszenierung zum gänzlich unlehrhaften Lehrstück über das Erwachsenwerden. Andreas Grothgar als Garga und Thomas Meinhardt als schrägäugiger Malaiie mit Glatze und Zopf beleuchten diesen qualvollen und zugleich verspielten Prozeß von vielen Seiten, mit Kraft und Eleganz und dem tiefen Wissen, daß Menschen vielschichtig und kompliziert sind, auch wenn sie vernagelt, blind und unverständlich agieren. Auch zu fast allen anderen Schauspielern wäre viel zu sagen, denn sie alle ordnen sich virtuos in den Tanz ein und liefern zugleich großzügig Kabinettstücke ihres Könnens. Was Andras Fricsay zu früh und zu laut versprach und beschwor, das Theater derer, die mit ihrer ganzen Person das volle Risiko eingehen, hier ist es als Ensembleleistung herangereift und eingelöst worden. Der gelbhäutige Shlink lächelt, mal gequält, mal maskenhaft-starr und dann wieder zärtlich- weich, immer im richtigen Augenblick, und er gibt sich schließlich selbst den Tod, am Ende aller Möglichkeiten mit Garga angelangt, dessen Triumph im Weiterleben und Nichtverstehen beruht. Auf die im Stück vorgesehenen Lynch-Kommandos gegen den Fremden, die doch als modisch-kurzsichtige Demonstration aktueller Rassismuskritik so nahegelegen hätten, verzichtete man: ein Prozeß des Erwachsenwerdens vielleicht auch für Ensemble und Regisseur, die in früheren Produktionen so oft kaum ein Mätzchen ausließen, um ihre Arbeit mit zu kleiner Münze feilzubieten. In diesem „Dickicht“ verfügen fast alle über ein breites Spektrum von Zwischentönen, mit dem sie die Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Figuren ausschöpfen: die Mutter Mae Garga (Maria von Bismarck) auf ihrem Weg von der kittelschürzigen Schlampe zur Frau, die das Schlachtfeld ihrer Wohnküche einfach verläßt, oder Gargas Schwester Marie mit den Höhen und Tiefen schwärmerischer Liebe bis zum Verkauf ihrer selbst und der letzten barmherzigen Nähe. Selbst Gargas ewig saufende Frau Jane, die ihre Zerstörung als Kette von Selbstverletzungen grell ausstellt (Heidemarie Gohde), gewinnt für einen langen, stillen Moment alle ihre mögliche Würde, als sie sich Gargas Zugriff und seinem Kampf gegen Shlink entzieht. Dieser Wechsel von rasantem Tempo und ergreifender Stille im weiträumig angelegten Zusammenspiel mit einer Fülle sorgfältiger kleiner Details schafft auch Raum für Brechts kluge Sätze vom Schluß, der nicht das Ziel ist, und vom Planeten, der seine Mitte verloren hat. Sie gerinnen nicht zu abstrakten Wahrheiten, weil sie hier an die Personen, die er in seinem Stück zusammenführt, gebunden bleiben, und das gelingt in dieser Intensität nur dem Theater. Die Menschen sind es, für die „alles umsonst ist und alles zuviel, das Mühe ist“, und Fricsays Inszenierung läßt sie sich mit ihrem schäbigen Leben nicht abfinden und dennoch keine Chance nutzen, läßt sie daran verzweifeln und zeigt, daß sie genau das nicht empfinden können. „Der Mensch ist zu haltbar. Das ist sein Hauptfehler.“ „Er kann zuviel mit sich anfangen. Er geht zu schwer kaputt.“

Der Theaterkritiker Herbert Ihering knüpfte an Brechts Stück vom Dickicht der Städte den Wunsch, die technische, industrielle, maschinelle Welt möge zuerst als „phantastisch“ erlebt werden, bevor man sie auf die Seele des Menschen rückbeziehen könne: „Erst müssen die neuen Dimensionen atmosphärisch erobert, erst müssen neue Luftschichten geschaffen werden, bevor seelisches Licht sichtbar gemacht werden kann.“ (Programmheft) Die Bremer Inszenierung, Andras Fricsays letzte Produktion mit seinem Ensemble, konnte diesen Wunsch erfüllen, weil der „Verbrauch der Irrtümer“ inzwischen weit fortgeschritten ist: dieser Erkenntnis haben sich alle Beteiligten mit großer Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit ausgesetzt. Das wird bleiben, auch wenn sie Bremen verlassen haben. Lore Kleinert