Der harte Kern

■ Literarischer Untergrund zwischen Berlin, Tanger und New York — das in Berlin erscheinende Magazin 'Warten‘ geht in die zweite Runde

Das in Berlin erscheinende Magazin 'Warten‘ scheint direkt aus William S. Burroughs »Interzone« zu kommen: Durch die Spalten und Labyrinthe der Zeitschrift bewegen sich einige der eigenwilligsten Köpfe des literarischen Undergrounds zwischen Berlin, Tanger und New York, etwa Carl Weissner und Hilka Nordhausen, Jürgen Ploog und Bert Papenfuß-Gorek. Neben der Publikation literarischer Texte betreibt die Zeitschrift eine Spurensuche, die um zentrale Protagonisten einer verschütteten und weithin ignorierten Avantgarde kreist: Jörg Schröder (März-Verlag) erinnert sich an Rolf Dieter Brinkmann (»Ein Kotzbrocken«), und der Berliner Galerist Jes Petersen legt Bruchstücke einer noch unveröffentlichten Biographie des Malers Schröder-Sonnenstern vor, in die Auszüge aus Sonnensterns wundersamen Endlos-Monologen einmontiert sind. Mit Zuneigung und Respekt vor einem eigenwillig geführten Leben zeichnet Petersen ein Porträt des Malers, das nach all den modischen Mystifikationen die erste ernstzunehmende Publikation über Sonnenstern ist.

Nur an wenigen Stellen verläßt die Zeitschrift ihr Niveau. Ein unverständlicher Einbruch ist es, daß sie die widerlich pornographischen Zeichnungen des maßlos überschätzten Malers H.R. Giger abdruckt und ihn, der nichts zu sagen hat, voller Hochachtung interviewt.

Mehrere Beiträge der Zeitschrift beschäftigen sich mit dem vor sechs Jahren gestorbenen Brion Gysin, der von Breton persönlich aus der surrealistischen Kirche verstoßen wurde (er hatte sich in einem Bild über Breton lächerlich gemacht) und Burroughs in die Technik des Cut-up einweihte. Aufschlußreich sind vor allem Udo Bregers kenntnisreiches Porträt und ein bisher nicht veröffentlichtes Interview, in dem Gysin über Jean Genet spricht: »Genet was living in the Minzah Hotel (in Tanger), the most expensive hotel in the city and (was) very proud to be able to do so and to impose upon them his — let's say, his uncouth ways and his not very clear clothes. He was proud of the fact that he hadn't changed his clothes since he'd last seen Burroughs 1968 and this was the sommer of 1969 and he was still wearing the same shirt, the same jacket and the same pants and said that he was rich enough to force an establishment like the Hotel Minzah to accept him because he was both rich and famous.«

Die Herausgeber betreiben eine Vermischung und Durchdringung verschiedenster Diskurse, die den Bruch mit dem suchen, was der gemütliche Kunstspießer für die Realität hält. Die bewundernswert souveräne Kenntnis der abgelegensten Seitenstränge der Avantgarde bewahrt ihr ehrgeiziges Projekt davor, bloß beliebig einige Exzentriker aneinanderzureihen; die Entschlossenheit, das brachliegende Feld zwischen Cut-up, Punk und Chaostheorie zu besetzen, verleiht dem Text- und Bildmaterial die notwendige Kohärenz.

Ein Thema, das immer wieder auftaucht, ist das ziellose Umherschweifen, das intellektuelle und physische Nomadentum, angefangen bei einem Text Wilsons über »Nomadosophy« und Islam bis hin zum dérive der Situationisten. Bedauerlich bloß, daß es der Zeitschrift nicht gelingt, ihr offenbares Interesse an den situationistischen Gedanken zu einer selbständigen Position der Situationistischen Internationalen gegenüber voranzutreiben; statt dessen druckt sie eine frühe Collage Guy Debords ab und publiziert einen kurzen Text Golles Ivains, der zur Zeit sowieso dauernd nachgedruckt wird (zuletzt im Taschenkalender der Edition Nautilus).

Letzteres wirkt ein wenig hilflos. Bei allen anderen Beiträgen fällt die uneitle Haltung der Herausgeber äußerst angenehm auf: Offenbar verstehen sie sich vor allem als Sammler und Monteure, die die aus ihrer Sicht relevanten Avantgarde-Strömungen zugänglich machen und vernetzen wollen. 'Warten‘ bringt Beiträge in deutsch und englisch, ist über weite Strecken erfreulich morbide und enthält erschreckend exzentrische und kraftvolle Bilder und Texte. Die Zeitschrift erscheint einmal jährlich und läßt sich am besten lesen, wenn man einem Vorschlag Gysins folgt: »We might just as well, for the moment, sit back and wait for the end of the world. We're all waiting for someone or something always, so why not wait for that? In the meantime, just let me read you something I wrote...« Peter Laudenbach

'Warten‘ Nr. 2, herausgegeben von R. Stoert und D. Bordan. Großformat, ca. 250 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 30 DM. Erhältlich über das Druckhaus Galrev (Lychener Straße 73, Prenzlauer Berg).