Vezas Märchen

Canettis Erzählungen „Geduld bringt Rosen“  ■ Von Michael Bienert

Veza Canetti liebte die Schwächsten der Gesellschaft: die Frauen und Kinder, die Mittellosen und Krüppel. Es war eine reine Liebe ohne Verklärung und Sentimentalität. Sie porträtierte „ihre Leute“, wie sie sie nannte, schonungslos, sparte das Abstoßende und Ekelerregende nicht aus, sondern steigerte es bis zur Groteske: „Was auf dem Sofa lag, hatte Hände. Es war aber auch das einzige, was an einen Menschen erinnerte. Sonst hatte das Wesen zwei skelettdürre, gelähmte Stangen statt der Beiene, einen breiten Kasten statt der Brust, eine Glatze dort, wo Haare hingehörten, ein dunkles Fell an den nackten Stellen des Körpers und schwarze Strünke an Stelle der Zähne. Die Sprache ersetzte ein nur den Mäusles verständliches Lallen, und statt von Gedanken lebte dieses Geschöpf von augenblicklichen Eindrücken, die es in heftige Freude oder Wut versetzen konnten.“

Die Eltern dieses Geschöpfs sind arm, und sie richten sich durch ihre eigene Dummheit zugrunde. Aber sie lieben ihren Krüppel und ihr Mädchen, das vor Häßlichkeit strotzt. Der Erzählerin Veza Canetti ist diese Liebe so selbstverständlich, daß sie sie nur en passant erwähnt.

Durch die erzählerische Überzeichnung entstehen aus den Menschen, die Veza Canetti beobachtet hat, Märchenfiguren. Auch die Knappheit, mit der sie erzählt, erinnert an Märchen. Zu einem guten Ende aber kommen ihre Geschichten fast nie. Zwar kommt es auch in einer Schreckenswelt einmal vor, daß das Gute, Wahre und Schöne siegt: öfter, als man denkt, meist im Verborgenen, wo man es nicht vermutet.

Doch das Glück hat keinen Bestand. Veza Canettis Erzählungen reden niemandem eine trügerische Sicherheit ein. Aber weil sie dem Schrecklichen mit so unerbittlicher Liebe ins Auge sieht, oder auf die verkrüppelten Leiber, nährt sie die Hoffnung auf das mögliche Glück.

Man merkt diesen Erzählungen an, daß sie mit einer klaren didaktischen Absicht geschrieben wurden, und daß Veza Canettis Talent sich dabei nicht ganz so frei entfalten konnte wie bei der erzählerischen Verwandlung des Lebens vor ihrer Haustür in den locker komponierten Roman Die gelbe Straße. Die Erzählungen sind Anfang der dreißiger Jahre im Feuilleton der Wiener 'Arbeiter-Zeiung‘ erstmals gedruckt worden. Wieland Herzfelde, der Malik-Verleger, nahm die Erzählung Geduld bringt Rosen 1932 in seine Anthologie 30 neue Erzähler des neuen Deutschland auf.

Sie steht dort zwischen Geschichten von Autoren, die damals Protagonisten einer operativen Literaturdoktrin waren und später zu „sozialistischen Klassikern“ hochgejubelt wurden: darunter Ernst Ottwalt, Hans Marchwitzka, F.C. Weiskopf. Daß deren stillschweigende Versenkung im Totenkeller der Literaturgeschichte zeitlich mit der Wiederentdeckung Veza Canettis zusammenfällt, die sich noch in den fünfziger Jahren eine „Sozilialistin“ nannte, ist bemerkenswert.

Es ist ihren jetzt wieder ausgegrabenen Erzählungen anzumerken, daß sie mit pädagogischen Absichten für ein Arbeiterpublikum geschrieben wurden. Sie handeln vom Verteilungskampf zwischen Besitzenden und Besitzlosen, vom Widerstand gegen die Abeitgeber und gegen die Staatsgewalt. Die Fabeln sind, obschon spannend, allzu sehr auf Durchsichtigkeit angelegt. Man liest sie als Erzählungen aus einer abgeschlossenen Epoche, in der Parteilichkeit angesichts des heraufziehenden Faschismus gefordert war. Freilich, verglichen mit dem, was an sozialistisch gemeinter Kunst aus den zwanziger und dreißiger Jahren bekannt ist, verdienen Veza Canettis Geschichten höchste Bewunderung.

Geduld bringt Rosen ist eine Erzählung von Arm und Reich, ein grausames Lehrstück darüber, wie die Ärmsten sich auch noch das letzte Hemd rauben lassen, weil sie nicht gelernt haben, den falschen Glanz des Reichtums zu durchschauen. Beide Parteien, die heruntergekommene russische Industriellenfamilie Prokop und die Familie des bitterarmen Kassenboten Mäusle, wohnen im selben Wiener Mietshaus. Die Prokops kämpfen um den Anschein von Wohlhabenheit und wissen sich notfalls das Geld zu verschaffen, das sie dazu brauchen, und sei es aus der Lohnkasse, die man dem Boten Mäusle anvertraut hat. Mäusle verliert deswegen seine Anstellung, seine Familie verfällt dem Ruin.

Der Märchentitel Geduld bringt Rosen entpuppt sich am Ende als bittere Ironie. Bitter ist auch die Moral, die die Autorin dem proletarischen Lesepublikum zumutet. Die Reichen sind nicht bösartiger als die Habenichtse, nur geschickter im überlebenskampf. Die Armen trifft selbst die Schuld, wenn sie sich mit dem, was sie haben, begnügen. Sie haben nicht begriffen, „daß das Schicksal es nicht leiden kann, wenn man sich begnügt. Es nimmt und nimmt bis zum letzten Faden des Begnügsamen, bis nichts mehr zu nehmen ist. Dann gibt es Ruh. Die Anspruchsvollen aber beginnen den Kampf, und je skrupelloser ihre Mittel, umso stärker sind sie.“

Zielsicher und scheinbar mitleidlos führt die Erzählerin ihre Figuren in die Katastrophe. Umso mehr leiden die Leser an ihrer Verblendung, und umso durchsichtiger wird sie. Ob das pädagogische Kalkül bei den Lesern der 'Arbeiter-Zeitung‘ aufgegangen ist — man weiß es nicht. Zu bewundern ist, daß Veza Canetti nicht in Klischees verfällt, sich dem Arbeiterpublikum, für das sie sich entschieden hatte, nicht anbiedert. So kommt es, daß ganz vergangen wirkt, was sie erzählt, nicht aber, wie sie erzählt. Ihre Sprache ist in sechzig Jahren kaum gealtert.

Zwei Geschichten fallen aus dem Dahmen. Der Verbrecher erinnert an Kindergeschichten aus dem Roman, und nur die bisher unveröffentlichte Erzählung Der Seher zeigt eine ganz neue Facette der Erzählerin. Aus einem Nichts an Worten zaubert sie eine Straße in Sevilla, wahrgenommen von dem blinden Bettler Diego. Er, der Seher, schlichtet die Streitfälle auf dem nahegelegenen Markt. Diego hat mit der Familie Mäusle vieles gemein: die Armseligkeit, die Blindheit, die Bereitschaft, sich in sein Schicksal zu ergeben. Doch während jene zugrunde gehen, ist der Seher eine Figur von großer Schönheit, Weisheit und Kraft. Dazu heißt es in Elias Canettis Vorwort zu Diegelbe Straße: „Sie, die Leidenschaft und Überschwang für viele hatte, trachtete danach, im Schreiben möglichst wenig davon merken zu lassen. Nur wenn es um spanische Gegenstände ging, für die sie eine Art von konstitutioneller Schwäche hatte, ließ sie sich ungescheut gehen und trug Gefühlsfarben auf, die sie sich sonst nie erlaubt hätte.“

Der neue Band mit Erzählungen zeigt uns die politisch engagierte Autorin, die ihrer Phantasie straffere Zügel anlegte, um sich den Erfordernissen der Zeit anzupassen. Zum anderen lernen wir Canetti als frei phantasierende Dichterin kennen, die im Seher ihrer Sehnsucht nach einer weniger grausamen Märchenwelt nachgibt. In dieser Welt müssen die Schwächsten nicht ununterbrochen ums Überleben kämpfen. Da sie geachtet werden, ist Gemügsamkeit dort kein Fehler, sondern ein Weg zum Glück, der allein offensteht. Aber leider ist das die Welt der reinen Phantasie.

Veza Canetti: Geduld bringt Rosen. Erzählungen. Hanser Verlag München, 202 S., geb., 22DM