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Ein starkes Stück Herstory

Daß Inge Scheuer nicht in Ravensbrück endete, verdankt sie allein dem Zufall. Der Kriegshilfsdienst hatte sie 1944 zur Marine nach Flensburg verschlagen. Dort wurde sie eines Tages von einer eifersüchtigen Vorgesetzten dabei erwischt, wie sie zusammen mit einer Kollegin auf dem Bett saß — „unschuldig“ wie Inge Scheuer versichert. Als lesbisch denunziert, wurde die damals 19jährige unehrenhaft entlassen und wochenlang in einer psychiatrischen Anstalt untersucht. Ihr Vater sagte: „Solche Leute wie du gehören vergast.“ Das weitere Schicksal der jungen Frau stand schon fest: Transport in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Da wurde sie von einer Ärztin, die zufällig mit ihrer älteren Schwester bekannt war, in letzter Minute nach Österreich in Sicherheit gebracht. Nach dem Krieg arbeitete Inge Scheuer bei der Reichsbahn („weil ich da immer Hosen tragen konnte, war das ideal“), mußte sich auch später noch einmal — gerichtlich — gegen die Denunziation einer Kollegin zur Wehr setzen. Sie lebt heute als Invalidenrentnerin zurückgezogen mit ihrer Gefährtin in Berlin.

Daß Inge Scheuer ihre Geschichte jetzt öffentlich preisgegeben hat, ist nicht dem Zufall zu verdanken, sondern Christina Karstädt (29) und Anette von Zitzewitz (42). Den beiden — die eine Dramaturgin aus dem Osten, die andere Psychologin aus dem Westen — ist es nach langen Recherchen und Vorgesprächen gelungen, 14 lesbische Frauen aus der DDR vor Kamera und Mikrophon zu bringen. Frauen zwischen 67 und 28, die — jede unter einem anderen privaten oder politischen Aspekt — über 40 Jahre lesbischer Existenz beschreiben. Ganz den Prinzipien der „oral history“ verpflichtet, verzichten die Filmemacherinnen selbst auf jeden (verbalen) Kommentar. Quasi chronologisch haben sie die verschiedenen biographischen Stücke hintereinander montiert, illustriert mit privaten Fotos, einzige Dokumente einer noch ungeschriebenen Geschichte. Als roter Faden dient die Musik von Maike Nowak — wie versichert wird — mit hohem Identifikationswert für die Ostszene. Schließlich hat sie die einzigen lesbischen Lieder in der DDR geschrieben.

... Viel zu viel verschwiegen ist formal ein schlichter Film, ohne Neigung zu Experimenten oder Überraschungen. Sein Verdienst liegt vor allem in der dokumentarischen Arbeit und Aussage — ein starkes Stück „Herstory“. Ulrike Helwerth

Nächste Aufführung: 6. Juni in Berlin (Volksuni), um 17 Uhr im Kinosaal der Humboldt-Universität, Unter den Linden. Der Film soll demnächst in den schwulen Berliner Filmverleih Salzgeber kommen.

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