Go east!

Lettland nichtlinear: eine Konferenz über Chaos & Harmonie an der Rigaer Universität und ihre Fortsetzung im richtigen Leben. Eine dringende Reiseempfehlung von  ■ Elke Schmitter

Er spricht über ,geistige Werte‘“, sagt meine Übersetzerin ironisch und klärt mich damit großzügig über die Rede des lettischen Professors auf, „das ist bei uns derzeit sehr in Mode...

„Das ist bei uns schon lange in Mode“, flüsterte ich zurück, „das hält sich. „Ja“, gibt sie ernsthaft zur Antwort, „aber wir glauben daran.“

In Riga ist Konferenz. Die philosophische Fakultät der Uni hat Akademiker diverser Sparten geladen, sich über „Chaos und Harmonie“ auseinanderzusetzen. Den finanziellen Verhältnissen gemäß sind die Formalitäten dürftig; das Programm ein hektographiertes Blättchen, das erst kurz zuvor fertig wurde. Die TeilnehmerInnen kommen aus den baltischen und GUS-Staaten wie aus der Bundesrepublik: Die Uni von Bremen, Rigas Partnerstadt, entsandte den Assistenten Hegselmann, und aus Berlin reiste der Philosoph Wilhelm Schmid an, der, vom DAAD unterstützt, auch einen Lehrauftrag in Riga wahrnimmt. Die Konferenzsprachen sind Lettisch, Russisch, Litauisch, Estnisch und Deutsch, und ihr Gebrauch ist nicht nur praktisch, sondern auch ideologisch motiviert: spricht eine Litauerin russisch, trägt sie der Verständlichkeit Rechnung, denn sie wird von den Balten und Russen verstanden. Spricht eine Lettin lettisch, trägt sie dem Nationalgefühl Rechnung, was die Balten zumindest mit dem Herzen verstehen — und für die Sache gibt es schließlich Übersetzer. Spricht ein Russe russisch, trägt er der Praxis Rechnung, denn der Sowjetmensch à la russe, in die Provinzen entsandt, hat es nie nötig gehabt, deren Sprachen zu lernen — auch mit einem Menschenleben Zeit.

Die Letten haben, als beinahe ersten Akt der Selbstvergewisserung, die russischen Schilder in der Öffentlichkeit entfernt: späte, harmlose Destruktion einer auch sprachlichen Okkupation. Sie haben aber auch gerade erst ein Sprachengesetz verabschiedet, dessen Präambel die lettische Sprache zu der Sprache Lettlands erklärt: späte, tiefgreifende Autodestruktion einer seit jeher mehrsprachigen Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Offenheit begibt. Faktisch wird durcheinander russisch und lettisch, von älteren auch Deutsch, von den Jüngeren deutsch und englisch gesprochen. Offiziell hat das Sprachspiel Grenzen: Lettland linear.

Das Chaos im menschlichen Körper: eine Metapher der Liberalen

Nichtlinearität ist das Vortragsthema des lettischen Mediziners Ilmars Lazovskis, der einen medizinischen Lehrstuhl innehat. Er beschreibt einen großen Bogen von Heisenberg über Mandelbrod zu den neuen Chaostheorien, rührend und unbefangen geht alles durcheinander: eine Fraktalabbildung, Lehrbuchillustrationen zur Herztätigkeit, ein Farbbild im besten realsozialistischen Stil von vier Sowjetmenschen, die Schnupfen haben; schließlich ein früher Picasso, in dessen Arzt-Patientin-Darstellung der Redner die falsche Vermessungsideologie der Schulmedizin dargestellt sieht. Chaos ist für den Professor kein Angstwort, sondern theoretisch begründbare Entwicklungshoffnung. Unruhe, Bewegung, Unsicherheit sind für ihn Stimuli, die Individuum und Gesellschaft notwendig brauchen. Gesundheit bezeichnet er als „das ideale chaotische System: absolute Harmonie ist der Tod.“Mit dem Ekklektizismus seines Vortrags ist Lazovskis doppelt typisch: für den Tumult des Denkens, der dort, wo neu gedacht und tatsächlich etwas verhandelt wird, immer entsteht und notwendig ist; auch für die Kreativität und Offenheit, die diesen Tumult ausmachen. Aber ebenfalls für jene Maßstabslosigkeit, die bei ihm fruchtbar, bei anderen Vorträgen lähmend wirkt; für die Abwesenheit nahezu aller Standards und den Hammelsprung der Disziplinen. Das alte Mißverständnis gutwilliger GeisteswissenschaftlerInnen, die den Graben zwischen den Kulturen überwinden wollten, die Heisenbergsche Unschärfe und Gödels Theorem, die Fraktale und die Chaostheorie gäben für ihre Systeme mehr her als illuminierende Anregung, wiederholt sich hier. Die Unüberblickbarkeit von Krankheitsverläufen ist ein Beispiel für das chaotische System Mensch, das, wie das Wetter, zu komplex ist, um determinierbar zu sein. Und Lazovskis will auf mehr hinaus als auf individuelle medizinische Therapie, als er programmatisch feststellt: „Harmonie führt zur physischen und psychischen Degeneration des Organismus.“ Das Chaos taugt als politische Metapher für die in Riga derzeit provokante Behauptung, die Gesellschaft bedürfe der Offenheit und Unruhe, des Versuchs und der nicht planbaren Bereiche — gerade jetzt, wo die nationalistische Tendenz im Parlament die Oberhand gewinnt, die Ordnungsdenker sich durchsetzen. Das Chaos als ideales Gesundheitssystem dient hier, im Off der Universität, als eine Metapher der liberalen Revolution.

Nichtlinearität und Maßstabslosigkeit, Gleichzeitigkeit von Post- und Vormoderne: bei dieser Konferenz ist alles zu finden. Der Physiker Silins aus Riga beschreibt mit Verve und derselben Hoffnung auf die Metapher Phänomene, die an einem bestimmten Punkt von Harmonie in Chaos umschlagen: der tropfende und dann weit aufgedrehte Wasserhahn; der Tennisball, der von einem Schläger erst langsam, dann schnell zum Hüpfen gebracht wird; das Reagenzglas, in dem eine chemikalische Flüssigkeit ganz plötzlich die Farbe wechselt — drei lineare Systeme, die nichtlinear sich entwickeln. Er schlägt ein Experiment mit Sägespänen und Butter vor, in einer Pfanne erhitzt. „Bei unseren heutigen Lebensumständen ein gewagtes Unternehmen“, lächelt mein Übersetzer.

(Die heutigen Lebensumstände in Riga: für eine Westeuropäerin schwer begreiflich; die Mühsal des täglichen Lebens erschließt sich nur derjenigen, die es führen muß. Auf dem Markt gibt es fast alles zu kaufen, wenn auch zu Phantasiepreisen. Die absurden Rechnungen, die deshalb erfordern und ermüden: 30 Mark, eingetauscht, ergeben einen — guten — Monatslohn von 2600 Rubel, was beiläufig dem vom Wirtschaftsministerium derzeit angegebenen Existenzminimum entspricht. Die Renten werden Monat für Monat erhöht, was am realen Verfall nichts ändert. In einem besseren Rubelrestaurant kann es passieren, daß man bei einem Mittagsmahl zu dritt eine Rente verzehrt. Die Inflation galoppiert derart, daß die Preise in den Cafés, die begreiflicherweise von den Einheimischen nicht mehr besucht werden, sich in zwei, drei Monaten verdoppelt haben. Es fehlt an Schreibpapier, Briefmarken, Schuhcreme. Vielleicht nicht an Sägespänen, bestimmt aber an Butter.)

Wilhelm Schmid spricht, auch als ironischen Gruß an den zur Konferenzzeit in Riga weilenden Mitterrand (der im geschlossenen Wagen durch die Hauptstraße braust, dem stehenden Volk gute westliche Abgase schenkend), über zwei französische Denker: Descartes als Ordnungsphilosoph, dessen Ziel das Subjekt des reinen Denkens war, aller Widersprüchlichkeit bereinigt, aller abstrakten Gewißheit mächtig und unabhängig von Zufall, Leidenschaft und Angst. Und dessen historische Alternative Montaigne, dessen Weg schon Ziel war — situatives, unreines Denken, Nicht-Identität und Vielfalt; das Denksubjekt als Erfahrungssubjekt. Es geht Schmid um den Import des Zweifels in eine Gesellschaft, die naturgemäß zur Verzweiflung neigt und in der die Suche nach „Identität“ schnell ins Nationalistische mündet. Der Folgeredner, einer der Leiter des Lehrstuhls für Philosophie in Riga, ist denn auch beflissen, die Einheit der Vielfalt flugs wiederherzustellen, als er in seinem Referat (Platon bemühend, als könne man Dummheiten nicht auch ohne ihn machen) Harmonie und Identität im Lettischen auf den Begriff zu bringen sucht: affirmative Vorübung für den in drei Tagen folgenden Kongreß zur Nationalitätenfrage, veranstaltet von der Akademie der Wissenschaften, die mit der Uni konkurriert.

Kollege Hegselmann aus Bremen umgeht souverän die Anforderungen von Ort und Stunde und amplifiziert das berühmte Gefangenendilemma als ordentliches Beispiel für Spiel- und Superspieltheorien; ein Vortrag, der erwartungsgemäß weder verstanden noch gewürdigt werden kann und ebenso widerspruchslos hingenommen wird wie sein Folgeflop, ein Wort zum Sonntag über die Erbsünde als Chaosbringerin schlechthin. Der Vortragende, Lehrbeauftragter an der auferstandenen theologischen Fakultät der Rigaer Universität, darf zum Abschlußplenum noch einmal sein Wesen treiben: auch diese Propagandaansprache, in welcher Ideologie und Christentum als die Antagonisten der Menschheitsentwicklung feurige Würdigung erfahren, bleibt ganz und gar unwidersprochen: es gibt keine Standards außer dem, daß erst mal jeder sagen darf, was lange nicht gesagt werden durfte. Und vielleicht hat der liebe Gott sich ja etwas dabei gedacht, daß wir die Augen und den Mund, nicht aber die Ohren schließen können.

Die zornigen jungen Männer sitzen unterm Dach, trinken Bier & hoffen auf Unordnung

Der Osten nichtlinear: eine Studentin fragt zum Begriff der Moderne nach und zitiert dabei Schnittke, Prigov, John Cage und Foucault. Die junge Dame, deren Familie wie Hunderttausende während des Stalinismus „übersiedelt“ wurde, spricht russisch, ist Jüdin und veranstaltet im Ural Seminare zur Postmoderne. Wenn Biographien gegen die Ideologie von Identität als letzter Aufhebung der Widersprüche immunisieren können, dann sind es diese. Die Generation der Professoren allerdings, von nicht weniger fraktalen Frakturen durchzogen, ist vor allem auf der Suche nach Gewißheit: bis zur Pensionsgrenze und möglichst darüber hinaus.

Die zornigen jungen Männer der Rigaer Universität sitzen derweil im vierten Stock unter dem Dach und trinken Bier. Sie sind beschäftigt am Lehrstuhl für Soziologie, der eine schmale Ausstattung hat und befürchten muß, im sich verschärfenden Konkurrenzkampf der akademischen Institute aufgerieben zu werden. Die Akademie der Wissenschaften, situierend im stalinistischen Prachttürmchen auf der anderen Seite der Stadt, hat eine Menge Stellen, aber keine Ausbildungserlaubnis. Die Universität ist weniger reich an Personal, darf aber Prüfungen abnehmen. Beide Einrichtungen kämpfen um Gelder, Macht und Kompetenzen, beide verfallen aufs nächstliegende: Publish or parish heißt hier national thinking brings national money. Die jungen Männer sind durch Studienaufenthalte im westlichen Ausland den meisten Professoren an Sicherheit und Kenntnis voraus, aber es nutzt ihnen nichts: woher soll eine Evaluierungskomission in Lettland kommen, und woher die neuen Professoren? Die einen betreiben Metaphysik, für die allemal mehr Gelder aufzutreiben sind als für kritische Soziologie. Die anderen befördern auf allerhöchster Denkebene den am wenigsten originellen Gedanken der Politik, den der nationalen Identität. Die Tatsache, daß der Satz „Lettland den Letten“ sich von „Polen den Polen“, „Deutschland den Deutschen“, „Slowenien den Slowenen“ schon rein grammatisch nicht unterscheidet, irritiert hier einstweilen wenige: Er klingt den Letten doch ganz eigen in den Ohren. „Einen Lehrstuhl allerdings würden wir wohl sofort kriegen“, grinst der eine Nachwuchssoziologe, „nämlich für Statistik. Die Erforschung der positiven öffentlichen Meinung ist der wichtigste Wissenschaftszweig in Riga heute.“

Die Situation ist verhängnisvoll: wenn der Nachwuchs frustriert ins Ausland geht oder zu Hause trotzt, der alte Apparat bis zur Pensionsgrenze weiterknarzt, gibt es jenseits von Linie und Nichtlinearität nur eins, nämlich ein Loch.

Westdeutsches Bier aus glänzenden kleinen Dosen: es trinken die Söhne der Chefs

Nichtlineares Denken: vielleicht ist die Wirtschaft weiter? Die Versorgung mit allem, was Luxus ist (Schuhcreme, Bananen, Medikamente bestimmter Art) wird derzeit vor allem von Schiebern aufrechterhalten; der einzige Luxus, der frei ist, beglänzt Arm wie Reich gleichermaßen: die Sonne scheint unentwegt. In den Cafés sitzen junge Männer und trinken westdeutsches Bier aus glänzenden kleinen Dosen; es sind die Söhne der Chefs. Man könnte sie Schieber nennen, man kann es auch freundlicher sagen: durch persönliche Verbindungen an Kupferdraht, Benzin und Autos gekommen, fahren sie Waren und Geld hin und her, das eine aus Lettland raus, und das andere wieder herein. Die meisten sprechen russisch, was ihre Verbindungen erklärt, aber nicht dazu angetan ist, die antirussische Stimmung im Lande zu besänftigen.Ihr Handwerk besteht darin, das Warenloch zu füllen und dabei gut zu verdienen; sie profitieren von einer Lücke, die das Parlament wohl schließen könnte, aber nicht schließen will oder kann. Gerade wurde dortselbst entschieden, keine Investitionsbank zu gründen, d.h., daß es für Unternehmer aus dem Ausland unmöglich ist, Devisen in Lettland auch nur auf die Bank zu bringen: dort werden es nämlich gleich Rubel. Die Herren allerdings, die mit einem Koffer voll Dollars einreisen, sind nicht unbedingt die seriösesten. Es gibt dafür viele davon: sie füllen die Hotels und zahlen 150 Dollar für ein Zimmer, das nicht ein Drittel davon wert ist, um „sich mal umzusehen“. Sie sehen eine Gesellschaft, von der die meisten an der Armutsgrenze leben und nicht wenige darunter und die von jener Währung regiert wird, die sie im Köfferchen mit sich führen.

Ein Club der Manager & Denker, der vielsprachig geblieben ist

In Riga hat sich ein Club gegründet, in dem sich die Bosse treffen: vornehmlich aus Wirtschaft und Politik, Ehrenmitglieder auch aus Kultur und Wissenschaft. In diesem Rotary Club der östlichen Art wird versucht, gleich mehrere Lücken zu füllen: Information, Ideen, Waren. Hier hat sich die Tradition erhalten, welche das Sprachgesetz dekredierte: bei den Kurzvorträgen der Mitglieder und Gäste spricht jeder in der Sprache seiner Wahl; an jenem Donnerstag nacheinander: der Chef von Voice of America, ein Lette namens Ozols (lettisch); ein französischer Politiker, Abgeordneter in Brüssel (englisch); der Präsident des Börsenvereins in Rußland (russisch). Meine Begleiter sprechen deutsch. Einer von ihnen, der junge Philosoph und Übersetzer Igors Sudvajevs, hielt vor Wochen hier eine Rede über die Freiheit; auch hier also spannt sich der Bogen weit (er sprach nach einem Bierbrauer und vor einem deutschen Unternehmer): Lettland nichtlinear.

Draußen scheint noch immer die Sonne. An der Freiheitsstatue im Zentrum — Symbol für die kurze Phase bürgerlicher Demokratie zwischen den beiden Weltkriegen —, die jeden Tag neu mit Blumen geschmückt wird, flanieren Menschen entlang und essen Eis, im Park spielen die Kinder. Die Mißbildungsrate auf dem Land ist hoch, eine Folge der Stalinisierung der Landwirtschaft; hier in der Stadt merkt man es nicht. Statt dessen fällt der Schmückungswille der Bevölkerung ins Auge: kein Supermarkt, in dem nicht frische Blumen neben der Kassiererin stehen, sogar in öffentlichen Bussen schwanken die Tulpen in einer Vase neben dem Fahrer und wippen bei jedem Schlagloch mit. Die Berichtende selbst erlag der irrigen Prognose, sie führe ganz und gar nach Osteuropa: einem dumpfen Impuls internationaler Frauensolidarität folgend, packte sie seufzend nur das Allerschlichteste in den kleinen Koffer, um mit westlichem Zierat keine Geschlechtsgenossin traurig zu stimmen. Nun steht sie inmitten der Flanierenden und wundert sich: Nicht einmal in Paris sah sie so viele bestgekleidete Frauen (während die Männer vor allem bärtig sind), so viele graziöse Schrittfolgen unter ungewöhnlichen Röcken, Kleidern, Kostümen. Blass und zum Aschenputtel geworden, fragt sie Bekannte, wie das wohl zu erklären sei, und erfährt:

Die Letten sind die jüdischen Iren Osteuropas. Mehrsprachig und kulturbeflissen erzogen, zugleich seit Chruschtschows Tauwetter vom größten Terror verschont, haben sie Emigrantenverwandte in aller Welt, die wiederum statistisch mit signifikanter Häufigkeit in guten Positionen sich befinden. So war nicht nur die Versorgungslage immer schon besser als in Zentralrußland, das politische Klima nicht ganz so angespannt, so führten auch die weitgestreuten Kontakte zu einer Akkumulation westlicher Kultur, gepflegt als diskreter Widerstand gegen die Besatzungsmacht. Intellektuelle haben, gewissermaßen „auf Halde“, verbotene russische und französische Philosophen übersetzt und amerikanische Soziologen gelesen. Die Zeitschrift 'Centaurus 21‘, hier am ehesten mit 'Lettre International‘ zu vergleichen, hat für die zweite Nummer Susan Sontags Against Interpretation“ in Auszügen übersetzt, Heidegger, Foucault und Klemperers Sprache des Dritten Reiches: Riga nichtlinear. Der entscheidende Schmuggelimport gelangte allerdings nicht an die Schreib-, sondern an die Schneidetische: das Burda- Heft.

Das Modeheft als Kulturträger

„Burda war hier immer schon sehr populär“, erklärt mir die Leiterin des „Burda-Hauses“ am Rande der Stadt auf die Frage des deutschen Aschenputtels, warum die Frauen hier so schön seien. Und angesprochen auf das Burdaer Moskau-Projekt, schüttelt sie heftig den Kopf: „Das hat Furore gemacht, international. Aber die Moskauer Frauen nutzen es nicht, sie blättern nur durch die Hefte. In Lettland näht fast jede Frau.“

Die Dame hat ganz offensichtlich recht, aber ein derzeit unlösbares Problem: Sie bekommt nur halb soviel Hefte, wie Lettlands Frauen haben wollen. Die Zuweisung kommt aus Moskau, und Moskau liefert nicht genug. Warum der Vertrag nicht geändert wird? Sie schüttelt fast verzweifelt den Kopf: „Politik... Burda hat mit Moskau den Vertrag geschlossen, und wenn Lettland auch mittlerweile unabhängig ist: in solchen Dingen sind wir es eben nicht.“ Eine von vielen Überlappungen, von vielen Unsicherheiten, die Lettlands Situation schwierig machen.

(Noch ist völlig ungeklärt, wer wem am Ende eine Rechnung stellt: Moskau Lettland für die Investitionen, welche die Landnahme mit sich brachte. Oder Lettland Moskau mit einem schlichten Vergleich des Zustands, in dem das Land sich vor der „Moskauer Zeit“ befand... Das Geld, der noch anwesenden Armee in Rußland neue Kasernen zu bauen, hat Lettland jedenfalls nicht. Vor wenigen Wochen ereignete sich ein Zwischenfall, der das Nebeneinander deutlich macht: Ein teures Kupferkabel wurde von den russischen Soldaten entfernt, um nach Moskau verbracht zu werden. Lettland hingegen war der Ansicht, was in seinem Boden liege, gehöre ihm auch. Am Ende stand die Stadtpolizei dem russischen Militär gegenüber, und in dem hysterischen Schußwechsel, der folgte, wurde ein Soldat am Zeh verletzt. Manchmal bedauert man heftig, daß Diplomatie Geheimwissenschaft ist: der sich daran anschließende Notenwechsel war sicher nicht ohne Reiz.)

Das Burda-Haus ist ein lupenreines Bauhaus, stilsicher von der Rigaer Innenarchitektin Anda Ratniece so neu gestaltet, daß es in nichts seine alte Funktion als Gästehaus der Partei verrät. In den Zimmern gibt es „Konsultation“: Mode- und Nähberatung, Kosmetik und Massage, eine kleine Modebibliothek. Auch ein Friseur ist im Haus, der Oberkopf und Innenraum desselben der Berichtenden beschäftigt als ein weiteres Beispiel für die lettische Nichtlinearität: eigentlich Mathematiker, hat er hier, in der ästhetischen Unordnung des Frauenhaars, seine Bestimmung gefunden.