GASTKOMMENTAR
: Soll man die Kleinen hängen?

■ Ja. Die Mitläufer sind nicht die Verführten des Systems, sie sind seine Grundlage

Kaum ist ein politisches System zusammengebrochen, fragen sich alle, was man mit seinen Dienern und Helfern machen soll. Wohin mit den Richtern, Staatsanwälten, Polizeibeamten, Lehrern, Bürgermeistern, Parteisekretären, Betriebsleitern und Hofpoeten? Soll man sie in die Verbannung schicken oder nur zum Ernteeinsatz? Wäre Umerziehung das richtige? Ist es zu verantworten, ihnen noch einmal eine Chance zu geben? Wie auch immer die Entscheidung ausfällt, sie wird von den Betroffenen als ungerecht empfunden. Und es dauert nicht lange, bis ein Opfer der Zeitenwende den Satz sagt, der unter solchen Umständen immer gesagt wird: „Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen.“ Dann nicken alle einvernehmlich wie bei allen ewigen Wahrheiten. So war es nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, so ist es wieder nach dem Ende der DDR.

Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich ein Problem zu sein, bei der Verfolgung politisch motivierter Untaten am unteren Ende der Verantwortungskette anzufangen, sich also eher an die Handlanger als an die Schreibtischtäter zu halten. Schaut man aber genauer hin, hat der Satz „Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen“ nicht nur eine innere Logik, sondern auch eine praktische Richtigkeit. Zum einen lassen sich die paar Großen leichter resozialisieren als die Masse der Kleinen. Ob es nun Hans Globke oder Wernher von Braun waren, die in hohen Positionen dem alten System treu dienten und sich dann in den Dienst der Sieger beziehungsweise des neuen Systems stellten, oder ob es nun Manfred Stolpe ist, der ein wichtiges Amt in der DDR verwaltete und nun zur politischen Klasse der Bundesrepublik zählt: wer einmal Verantwortung getragen hat und über ein bestimmtes Wissen verfügt, der kann wieder Führungsaufgaben übernehmen, auf den ist Verlaß. Dem ehemaligen Rektor der Humboldt-Universität, Heinrich Fink, seine Verstrickung in das Netz der Staatssicherheit nachzutragen und ihm seine Ergebenheitsadressen an das ZK oder das Politbüro vorzuhalten, ist vollkommen albern. Er würde, ließe man ihn nur, an der Durchsetzung der Beschlüsse der Kultusministerkonferenz ebenso konstruktiv mitwirken, wie er es bei den Richtlinien des DDR-Kulturministers tat.

Anders liegen die Dinge bei den Mitläufern, die, ohne Verantwortung zu tragen oder ein Risiko zu übernehmen, mitgemacht haben, weil es einfach bequem war und mit kleinen Vorteilen verbunden. Die Mitläufer sind nicht die Verführten eines Systems, sie sind seine Grundlage. Ohne sie wären die Mächtigen machtlos, wäre einfach niemand da, der ihren Befehlen gehorchen, ihre Anordnungen ausführen würde. Der Gauleiter ist ohne die Blockwarte nicht denkbar. Ein Führer, dem niemand zujubelt, wäre eine hilflose Gestalt. Und anders als die Überzeugungstäter sind die Mitläufer auch kaum zu resozialisieren: weil sie ihre Schuld weder einsehen noch annehmen, weil sie sich auf andere rausreden, weil sie sich nie die Hände schmutzig machen, egal was für eine Blutspur sie hinterlassen.

Ein System, dem sich die Mitläufer versagen, bricht zusammen, wie sehr sich auch die Angehörigen der Eliten darum bemühen, an der Macht zu bleiben. Ein Gewaltsystem ist keine One-Man- Show, ganz gleich wie der Oberschurke an der Spitze heißt. Wie bei der Pyramidennummer im Zirkus kommt es auf die Leute ganz unten an der Basis an. Schon Trotzki wußte es: „Die Basis ist die Grundlage des Fundaments.“

Nein, hängen soll man sie nicht, die Kleinen. Aber auch nicht laufenlassen. Damit die Mitläufer von heute und morgen wissen, was ihnen übermorgen blühen könnte. Henryk M. Broder