Sarajevo, wo Europa stirbt

■ Unterwegs mit einem UNO-Hilfskonvoi in die umkämpfte bosnische Hauptstadt

Nach knapp zwei Wochen sind wir — Colin Smith vom 'Observer‘ und ich vom 'Corriere della Sera‘ — mit dem ersten Konvoi der UNO seit der Verhängung der Sanktionen wieder nach Sarajevo zurückgekehrt. Überall sehen, riechen, hören wir die Zeichen eines kollektiven Todes. Geschützdonner und Explosion von Granaten. Niemand bemerkt uns. Nur hier und da bellt ein aufgeschreckter Hund. Die Vögel zwitschern nach jeder Explosion fröhlich weiter und lassen sich nur durch das Quietschen der Reifen umherrasender Autos unterbrechen. Im Präsidentenpalast gibt es kein Wasser mehr. Die Fenster stehen sperrangelweit offen. Man will vermeiden, daß der Luftdruck die Scheiben zum Bersten bringt. Milizionäre mit schußbereiter Maschinenpistole stehen herum, achtjährige Jungen spielen sich als Polizisten auf.

In Sarajevo ist man immer wieder von neuem überrascht. Sobald auch nur ein bißchen Ruhe eingekehrt ist, kann man Kinder auf den Straßen radeln sehen. Im Präsidentenpalast denkt immer noch jemand daran, ein Essen zuzubereiten, und zwischen zerstörten Häusern kann man mitunter einen Straßenfeger entdecken, der die Trümmer zusammenkehrt, oder sogar einen gelben Wagen, der die Postsendungen ausfährt. Doch zwei Wochen Sarajevo können offenbar eine Ewigkeit bedeuten. In den Gesichtern kann man lesen, was es vor zwei Wochen noch nicht gab: die jeden Tag von neuem enttäuschte Hoffnung, daß irgendein unfaßbares Wunder geschieht und sich die Welt an die sterbende Stadt erinnert. Manchmal liest man auch Haß und Angst.

Wir haben die Hoffnung in den Gesichtern der Frauen mit ihren schwarzen Kopftüchern gesehen, die weinten und die Hände wie zu einem Stoßgebet rangen. Sie sahen unsere Karawane von 21 weißen Autos mit den blauen Fahnen der UNO vorbeifahren, begleitet von Panzerwagen der schußbereiten Blauhelme, die vor allem besorgt waren, nicht in einen Hinterhalt zu fallen und heil in der kleinen Festung der Schutztruppe der Vereinten Nationen anzukommen, einer Truppe, die im wesentlichen damit beschäftigt ist, sich selbst zu schützen.

Einige Kinder winken unserer Autokolonne zu oder werfen gar Blumen. Zwischen den Trümmern erscheinen Gestalten. Endlich — so denken sie offenbar — hat sich die Welt an Sarajevo erinnert. Sie wissen nicht, daß die Hilfsgüter und Lebensmittel, abgesehen von einem Lastwagen mit Medikamenten, Plasma, Gazebinden und chirurgischen Instrumenten, allein für die UNO-Soldaten bestimmt sind. Aus den Gesichtern der Leute haben wir manchmal neben der Hoffnung auch Wut auf die Fremden herausgelesen, die nur beobachten und, wenn es zu brenzlig wird, vielleicht ja abhauen können.

Bei mindestens zwei Gelegenheiten hat sich auf unserer Reise die Wut in offene Feindschaft verwandelt. In Simin Han, einem Dörfchen, das in der Nähe eines der vielen moslemischen Gebiete liegt, die auch das sogenannte serbische Gebiet Bosnien- Herzegowinas durchsetzen, schlugen zwei Raketen wenige Meter hinter dem letzten Auto unseres UN- Konvois ein. Kurz danach mußte die Fahrzeugkolonne in einem besonders gefährlichen Gebiet unter dem Beschuß von Mörsern anhalten, weil die Straße vermint war. Ein mutiger Hauptmann des französischen Kontingents hat die Minen schließlich entfernt.

Am folgenden Tag, als wir nach fast 30 Stunden Fahrt schließlich in Sarajevo ankamen, wurde im serbisch-moslemischen Viertel Buca Potak über zehnmal auf uns geschossen. Offenbar versuchte man, einen Zwischenfall zu provozieren.

Es grenzte an ein Wunder, daß die französischen, kenianischen und ägyptischen Soldaten, die bereits Kampfposition bezogen hatten, das Feuer nicht erwiderten, wozu sie ermächtigt gewesen wären. Es hätte zu schwerwiegenden Folgen führen können, ja sogar zur direkten Verwicklung der UNO in den Krieg.

Im Präsidentenpalast, einem soliden Gebäude im Habsburger Stil, das täglich von Geschossen getroffen wird, geht indes die Regierung ihrer Tätigkeit nach. Der Vizepräsident Ejub Ganic empfängt weiterhin Besucher und Würdenträger mit ausgesuchter Eleganz. „Wenn wir sterben müssen“, sagt er, „dann mit Stil.“ Gerade hat er an die Westeuropäische Union appelliert, damit die Nato militärisch interveniert.

Gordana Knezic, Redakteur bei der Tageszeitung 'Oslobodjenie‘, die ab und zu noch erscheint, sagt: „Die Leute haben nun wirklich Hunger. Sie haben noch Reis und Mehl, aber oft kein Wasser und keine Elektrizität mehr. In Sarajevo gibt es keinen Raum für Hoffnung mehr. Immer öfter lernen sie nun zu hassen.“ Renzo Cianfanelli, Sarajevo

aus: 'Corriere della Sera‘, 6.6.92 (die Reportage wurde also noch vor den massiven Zerstörungen am Pfingstwochenende geschrieben)