Entfremdung von sich selbst

■ Christiane Peitz unterhielt sich mit Tamara Trampe und Johann Feindt über ihren Film „Der schwarze Kasten“

Christiane Peitz: Habt ihr euch grundsätzliche Gedanken gemacht darüber, wie man einen Täter porträtiert? Ihr zeigt Girke ja nicht zu Hause im Wohnzimmer, sondern in einem inszenierten Kunstraum.

Johann Feindt: Es ist ja ein Dialog zwischen Trampe und Girke, also zwei Menschen, die aus demselben Gesellschaftssystem kommen, die beide für sich in Anspruch nehmen, von dieser sozialistischen Idee geprägt zu sein oder sogar dieses Ideal zu haben. Das hatte die Überlegung zur Folge, daß, wenn man ein Porträt macht über so einen, man, ohne es zu wollen, auch die Gesellschaft portraitiert, in der er groß geworden ist, die seinen Charakter geprägt hat. Deshalb haben wir diesen Kunstraum manchmal auch verlassen, haben die Eltern aufgesucht, die Lehrer. Die Frage war: Wo wird jemand zurechtgebogen, wie wirkt sich das aus?

Die Notizen über den Schüler Jochen zum Beispiel...

Feindt: Ja, auf Wunsch des Vaters wurde von den Lehrern dieses Büchlein angelegt mit täglichen Eintragungen. Da wird also einer von Kindheit an von einer Kontrollinstanz begleitet und akzeptiert es. So ist es für ihn auch normal, andere zu kontrollieren. Was den Raum anbelangt, haben wir lange überlegt. In jedem Fall sollte die Person für den Zuschauer nicht durch das Interieur charakterisiert werden. Das ist ein legitimes Verfahren, aber diesmal wollten wir es nicht. Wir wollten so wenig Ablenkung wie möglich.

Tamara Trampe: Dieses Geprägtwerden durch die Umwelt in Kombination mit der Überzeugung, etwas Tugendhaftes getan zu haben, gab es in der deutschen Geschichte ja schon einmal. Da fällt jemand von einem Tag auf den andern aus einem System heraus, das ihm immer das Gefühl vermittelt hat, er tut etwas Richtiges. Plötzlich steht er da, alle zeigen mit dem Finger auf ihn und sagen, wir sind's nicht gewesen, aber du. Deshalb wollten wir es zeitloser inszenieren, nicht in einer Wohnung, DDR, 92.

Zwar gibt es in der Mitte des Films die Episode mit Jürgen Fuchs, aber keine direkte Konfrontation von Täter und Opfer. Warum?

Trampe: Eine Konfrontation ist immer etwas sehr Konkretes und geht die Gefahr ein, daß sie sich beschränkt auf die beiden, die einander gegenübersitzen. Die andern im Saal haben dann nichts damit zu tun.

Aber das Portrait, das ihr zeichnet, ist ja keineswegs verallgemeinernd. Jochen Girke steht ja nicht stellvertretend für einen Apparat, sondern es geht ja sehr konkret um diese eine Person.

Feindt: Ja, und man kann sehr viel an ihr entdecken. Zum Beispiel diese Ghetto-Situation. Er lebte da draußen fernab der Realität und erfährt von ihr nur vermittelt über Fernsehen oder Zeitungen, aber nie persönlich. Deshalb die Frage am Anfang: „Dann sind Sie also einer dieser Schreibtischtäter?“, worauf er sagt: „Ja, das bin ich.“ Die Auswirkungen seines eigenen Handelns sind für ihn nie direkt spürbar geworden. Deshalb hat er auch nichts moralisch Verwerfliches daran gefunden, im Urlaub, den die Stasi teilfinanziert hat, seine Nachbarn zu bespitzeln. Das ist nur erklärlich, wenn man sich vorstellt, daß es keine eigene innere Instanz gibt, vor der Recht oder Unrecht hinterfragt wurde.

Trampe: Dem muß eine Zerstörung vorausgegangen sein, oder eine Entfremdung von sich selbst. Girke hat kein subjektives Korrektiv. Und eine Aufhebung dieser Entfremdung kann er im Moment gar nicht zulassen. Wenn er die Methoden, die auf ihn angewendet wurden — sein Leben im Ghetto zum Beispiel, oder daß er seine ersten Mädchen, mit denen er befreundet war, dem Amt melden und sie ja auch austauschen mußte —, wenn er diese Struktur, der er unterworfen war, wahrhaben wollte, brächen die Schutzschichten zusammen, die ihn jetzt noch gesund sein lassen. Er müßte sein ganzes Leben in Frage stellen, seine Marionetten- Existenz. Wer kann das schon!

„Der schwarze Kasten“ ist für mich eine Fortsetzung von Sibylle Schönemanns „Verriegelte Zeit“ vom vergangenen Jahr, in dem die Filmemacherin herauszufinden versucht, wer für ihre Inhaftierung infolge eines Ausreiseantrags verantwortlich ist. Wobei Schönemann im Vergleich zu euch forscher zur Sache geht; sie behelligt die Leute unangemeldet im Vorgarten, beim Wäscheaufhängen, hält ihre Ausflüchte fest und läßt nicht locker...

Trampe: Das liegt daran, daß ich im Gegensatz zu Sybille ja mit Jochen Girke eine Verabredung habe. Außerdem war sie eine der ersten, die losgezogen ist. Unser Ausgangspunkt ist ein anderer: Wir setzen uns gemeinsam an den Tisch, du hast Fragen, ich habe Fragen, mal sehen, ob wir etwas zusammen klären können. Und es gab eine lange Bekanntschaft, eineinhalb Jahre. Wir haben Girkes Bücher gesehen, Fotos und Geschichten aus seinem Leben gehört. Jochen Girke ist mir kein Fremder. So entstand Nähe, aber auch große Distanz, und zwar immer dann, wenn ich das Gefühl hatte: Jetzt blockt er ab. Und die Spannung, die immer größer wurde bei mir, resultierte aus diesem Gefühl, gegen eine Mauer zu rennen, die Grenze erreicht zu haben.

Die Grenze eines solchen Gesprächsversuchs wird deutlich am Ende des Films, wenn du, Tamara, wütend wirst und sagst: Das stimmt nicht, das glaube ich nicht. Da scheint auch dein Wille erschöpft zu sein, für Girke überhaupt Verständnis aufzubringen.

Trampe: Ja, zum Beispiel halte ich es für ganz gefährlich und wurde wütend, wenn Girke zwischen heute und damals trennt. Wenn er sagt, das war vor zwei Jahren, die Bedingungen waren damals so, oder: Ich erinnere mich nicht.

Feindt: Ein bequemer Schematismus, der überdies die Gefahr birgt, daß er heute wieder so handeln würde, wenn die Bedingungen wieder so wären.

Reagieren eigentlich Zuschauer aus Ost- und Westdeutschland unterschiedlich auf den Film?

Trampe: Viele westliche Zuschauer reagieren allergisch auf den Schluß, wo es zur Auseinandersetzung zwischen Girke und mir kommt. Sie sagen: So etwas macht man nicht. Erst mit jemand ruhig reden und ihm dann eins auf den Kopf geben. Zuschauer aus Ost-Berlin haben das eher wie ein Druckventil empfunden und gesagt: Endlich! Endlich sagt jemand: Jetzt ist aber Schluß.

Ihr seid ja auch ein gemischtes Team. Gab es für dich als Westfilmemacher andere Motive bei diesem Film als für Tamara Trampe?

Ja, natürlich, ich komme ja nicht aus diesem Land. Und doch gibt es diese Denkstrukturen, dieses Schielen nach Väterchen Staat, ja bei uns auch, zumindest in zugespitzten Situationen, wie zum Beispiel im deutschen Herbst.

Trampe: Das Team war ein reines Westteam, und das mit Absicht. Wir wollten keinen Film über die Stasi machen, sondern einen über das Denken, darüber, wie sich ein Charakter formt. Und das geht besser, dachten wir, wenn nicht das ganze Team involviert ist. Mir selbst hat das Schutz gegeben. Die Skandale waren ja sowieso in allen Medien. Natürlich bin ich wütend auf Leute wie Girke, aber ich bin nicht auf alles von ihm wütend; auf seine Kindheit kann ich nicht wütend sein, die macht mich traurig.

Hast du deine Akte eingesehen?

Trampe: Nein, erst demnächst. Aber mehr als Zensur interessiert mich Selbstzensur. Wie kann es geschehen, daß du bestimmte Filme gar nicht mehr denkst? Welchen Einfluß hat das auf die nachfolgende Arbeit?

Darüber hast du vor dem Ende der DDR doch wahrscheinlich auch schon nachgedacht.

Trampe: Ja, aber anders. Zum Teil hab' ich gedacht, ich hätte immens etwas vollbracht, wenn man irgend etwas durchgedrückt hat. Darüber denke ich jetzt schon anders: Wieso habe ich das damals als Leistung empfunden? Und wieso habe ich andere Stoffe erst gar nicht angefangen?

Wie genau funktionierte die Überwachung bei dir selbst? Habt ihr davon gewußt? Ich kann es mir so schwer vorstellen.

Trampe: Keiner kann sich vorstellen, daß er zwanzig oder dreißig IMs hatte. Aber daß es Leute um uns herum gab, die der Stasi berichtet haben, das wußten wir.

Das hat dich nicht überrascht.

Trampe: Die Überraschungen sind immer die Personen, aber oft sind es genau die, von denen man es immer geahnt hat. Die Gewißheit jetzt kann etwas Befreiendes haben; bei andern denkt man darüber nach, wie sie dazu gekommen sind, und versucht, mit ihnen zu reden.

Im Moment ist die DDR-Vergangenheit ja in allen Medien gegenwärtig; nach wie vor streitet man sich über die Methoden, mit denen man ihr beikommen kann. Viele sagen, jetzt müsse endlich mal Schluß sein, andere fordern ein Tribunal.

Trampe: Hauptsache, es geschieht. Ich finde das wichtig, so etwas hat es in Deutschland nie gegeben. Sie sollen es auf allen Ebenen betreiben, ruhig Fehler dabei machen, aber den Versuch unternehmen und die Geschichte nicht ruhen lassen. Es ist eine große historische Chance.

Was kann ein Film als Teil von Öffentlichkeit im diesem Prozeß denn leisten?

Trampe: Girkes Mutter sagt ja: Die da oben haben es angezettelt, und wir Kleinen haben nur mitgemacht. Ein Fatalist würde dem zustimmen. Aber wenn du diese höhere Art namens Mensch nicht ganz aufgeben willst, mußt du dem widersprechen. Dieses Denken zu verstören, diese Ablehnung von Verantwortung nicht hinzunehmen, das kann ein Film immerhin leisten.

Täter hatten ja Konjunktur in der letzten Zeit, und die öffentliche Meinung richtete sich oft mehr gegen die, die unter ihnen gelitten haben. Die Tatsache, daß Wolf Biermann den Spitzel Sascha Anderson beim Namen genannt hat, hat mehr Entrüstung provoziert als die Bespitzelung selber. Liegt in der Faszination des Bösen nicht auch eine Gefahr?

Feindt: Die Faszination gibt es sicher. Die These mag gewagt sein, aber dennoch: eine Gesellschaft wird von den Tätern mehr geprägt als von den Opfern. Natürlich muß man sich um die Opfer kümmern, sie müssen sich zu Wort melden. Die Entrüstung läßt sich psychologisch vielleicht so erklären, daß die Leute den Opfern zwar alle Emotionalität zubilligen, aber von ihnen erwarten, daß sie die Moral wahren, daß sie die besseren Menschen sind, weil sie sonst wie die Täter sind. Aber wenn man etwas über die Geschichte herausfinden will, wenn man nicht will, daß das gleiche wieder geschieht, muß man sich um die Täter kümmern.