Nicht weiter aufgefallen

Der Stasi-Offizier Jochen Girke im „Schwarzen Kasten“  ■ Von Dietmar Hochmuth

In einem der ersten deutsch-deutschen Filme nach dem Mauerfall, Im Glanze dieses Glückes, attackierte Helga Reidemeister, im Thüringischen wie mit dem Fallschirm abgesetzt, einen Mann auf einer Dorfstraße mit Kamera und Mikrofon: „Sie sind also das Stasi- Schwein in diesem Kaff...“ Zur Abrundung des Weltbildes folgte im Umschnitt ein bayerischer Bierkeller, natürlich brauner Bierschaum, dann Leipzig und des Kanzlers feister Nacken. Diese Art Fallschirmjägerdokumentarismus hat mich damals stark gewurmt, und ich dachte mir, es gibt Fragen, die kann man nur sich selbst stellen, sich oder zumindest unter sich und dadurch für andere mit. Den Beginn einer genaueren Analyse leistete im selben Film der Beitrag von Tamara Trampe, damals Dramaturgin bei der DEFA in Babelsberg, die einen erstaunlich auskunftwilligen Hintergrundtäter im Rang eines Oberstleutnants aus dem Ministerium für Staatssicherheit aufgespürt hatte. Einen Mann, der „mit sauberen wissenschaftlichen Methoden“ Gutes wollte und in vom Staat geförderter Blindheit übersah, wie er Böses tat.

Die Aussagen damals waren eher schlicht, sie schienen kaum erweiterbar, und doch war eine Nuß nicht geknackt: der Selbstentfremdungsprozesse von einer unauffälligen grauen Maus zum domestizierten Büttel, der sich heute noch nur wundert, nicht aber ernsthaft befragt. Da halfen nun anderthalb Jahre später Tamara Trampe aus „O“ und Johann Feindt aus „W“ (mit der Kamera) nach. Zugegeben, ich habe die Begegnung mit dem „Schwarzen Kasten“ lange hinausgezögert, weil ich kaum glaubte, daß diesem etwas beschränkt wirkenden Kronzeugen eines wichtigen Kapitels der DDR-Geschichte samt Untergang weitere Aussagen zu entlocken sind, die für einen 90-Minuten-Film langen würden. So aber kann man sich irren: die Entdeckungen im Krankheitsbild einer sehr deutschen Denkart sind verblüffend und übertreffen erheblich den bitteren Vorgeschmack aus der Stippvisite von Im Glanze dieses Glückes.

Hier wird niemand mehr als Stasischwein angegangen und damit zum ewigen Schweigen gebracht (... die andern warn's!“) gebracht, sondern hier wird einem öffentlich auf die Couch geholfen. Mit (wenn auch unterschiedlichem) Heilungseffekt für Patienten, Psychoanalytiker und die Zuschauer dieser Séance.

Der Film beginnt mit Bildern von Betondepots, hinter deren Stahltüren die Gewissenslage des operativ bearbeiteten DDR-Volks fein säuberlich auf Karteikarten vermerkt war — praktisches „Endziel“ von Dr. Girkes sauberer wissenschaftlicher Tätigkeit, der Ausbilder und Anwerber von IMs ausgebildet hat — zum Beispiel in Sachen erst Vertrauensgewinn, dann -bruch. An diesen Stahltüren endete 1991 die Verriegelte Zeit von Sybille Schönemann. Tamara Trampe geht nun nicht Akten nach, sondern dem Geist, der ihre Herstellung und Wiederaufbereitung dirigierte. Der erste Satz im Film lautet: „Es war für mich zunehmend feststellbar, daß ich mich für Menschen interessierte.“ Dann: „Psychologie im Einsatz mit, für und gegen den Menschen...“ Für Berufskollegen des Psychologen Girke bestimmt ein gefundenes Fressen — genauso wie die immer noch abrufbaren Hülsen vom „humanistischen Ansatz“ und „wissenschaftlichen Methoden“. Solche Sprüche, allerdings aus den Mündern von Lehrern, Filmhochschuldozenten und Studiochefs, klingeln einem nachhaltig in den Ohren — sie wurden nicht nur an der unsichtbaren Front gedroschen.

Girke ist Jahrgang 49, so alt wie die DDR, er hat sie, was niemand je vermutete (er schon gar nicht) überlebt. Sie wurde nicht einmal begraben, und nun steht er da mit sich als ihrem Scherbenhaufen. Er wollte zum Film. Doch für den ordentlich gescheitelten Jungen aus Stadtroda bei Jena, wo es paradoxerweise eine Psychiatrie gab, sonst nichts, ein (so sein Lehrer) „hochgestochener“ Berufswunsch: „Da mußt du natürlich freiwillig drei Jahre zur Armee, am besten gleich zum Wachregiment des MfS, das ist nämlich ganz dicht beim Fernsehen...“ Und so nahm ein nie reflektiertes Verhängnis seinen Lauf. Da tat mir, nicht nur beim Anblick rührend gefertigter 8-mm- Filme und Fotoalben („Meine Kinderzeit“), der Mann sogar unendlich leid.

Als mich in den 70er Jahren ein Nachbar, von dem es immer hieß, er sei bei der Kripo gewesen, ansprach („... aus Ihrer Branche haben wir viel zu wenige bei uns“), muß ich so verdattert geguckt haben, daß mich nie wieder jemand ansprach. Und erst seine Beerdigung brachte es an den Tag: Kränze mit Schleifen aus dem größten Ministerium der DDR. Für Jochen Girke hing der Korb (Film) deutlich höher als für mich (und auch für Tamara Trampe), das soll ihn nicht entschuldigen, denn er hatte — wie alle — die Chance zum Begreifen täglich, sogar zum Ausstieg. Spätestens bei der Zwangsbrautschau vor der Kaderkommission, die ihm das ideologische Zölibat („da dachte ich, ein Mädchen aus der Sektion ML mußte es sein“) auferlegte und einer anderen Wahl „die Zustimmung versagte“ („weil das Mädchen in der Kindheit sich für einige Tage in der feindlichen BRD aufgehalten habe“).

Als der Funkamateur und „wackere, kontaktfreudige und sportliche Pionier“ Jochen Girke bei seiner Anwerbung an die „Herzlichen Radiogrüße, J. Girke, DDR“ erinnert wurde, die er als Kind an den Vatikansender geschickt hatte, erinnert wurde, erschrak er nicht etwa, sondern empfand Begeisterung für die „solide Arbeitsweise“ und wollte nun selber, „daß ein Sicherheitsorgan sauber und souverän mit Menschen umgeht. Will man den schwarzen Kasten eines Menschen aufbrechen, ihn durchleuchten, muß man sich sauberer und wissenschaftlicher Methoden bedienen.“

Der immerhin promovierte Psychologe trug die Uniform zwar nicht gern, aber sich durchzusetzen half sie ihm schon: Zum Fasching ging er vorzugsweise als Hauptmann von Köpenick. Psychoanalyse als Realsatire, über die man aber erst heute — wenn überhaupt — lachen kann... Girke ist der Prototyp dessen, wofür es in der neueren Sprache dieses Jahrhunderts, wahrscheinlich wegen des historischen Vorlaufs, nur im Russischen eine treffende Entsprechung gibt: „prawilny tschelowek“, wörtlich ein richtiger Mensch, das meint zugleich „regelrecht“ und nach höchsten Kriterien „rechtschaffend“. Die Endstation vom „neuen Menschen“. Diesem Bild zu entsprechen hat Girke so gut gelernt, daß er noch heute seine Lektionen wie von der Diskette einliest.

Aber sein eigenes Biuld von sich ist leer. Schon als Schüler mochte der spätere Psychologe keine Selbstporträts zeichnen, lieber „griffige Gegenstände“. In diese Schublade hatte sich sein Menschenbild zu kuschen. Der Vater bescheinigt Jochen noch heute seine Fügsamkeit. Die Lehrerin fordert er auf, täglich Rückmeldungen über Verfehlungen zu notieren. Beliebtester Eintrag: „nicht weiter aufgefallen...“

Tamara Trampe sucht auch die Universität in Jena auf, wo Girke mit Studienplatz und Sonderstipendium, weit über seine Kompetenz erhöht, zum „Psychologen“ geschlagen wurde, und hier haben die Lehrer von einst sogleich den Spruch vom Chirurgen auf den Lippen, der mit seinem Messer heilen und töten könnte. Daß Girke in höherm Auftrag studierte, war weniger ein Rätsel als die Höhe des Sonderstipendiums („von uns hat er keins gekriegt“). Es betrug, wie gemunkelt wurde, 800 Mark, immerhin ein Durchschnittsverdienst, mit dem viele Kommilitonen nicht einmal nach dem Studium anfingen. Wer also hat wovon nichts gewußt?

Entlastung ist auch die Intention der Mutter, die will, daß „endlich mal Ruhe reinkommt und die von der Regierung dran sind, die es nämlich angezettelt haben“. Ihr Junge wollte immer nur das Beste — mit sauberen wissenschaftlichen Mitteln. Worte wie „übern Tisch ziehen“ (IMs anwerben) und „rundmachen“ mochte er nicht. Er sprach mehr von bearbeiteter Person und hätte die eigene Frau in die Pfanne gehauen, wenn denn nur „die Einstiegsbegründung logisch war“. Der Dienst war sowieso wichtiger als Frauen.

Es war ein guter Griff, ausgerechnet einen „Schreibtischtäter“ vor der Kamera wie unterm Mikroskop zu präparieren, weil er mit seiner entfremdeten Arbeit sich nur scheinbar fernab von der Dreckarbeit einer sich ritterlich gebärdenden Truppe befand, die so oft das Wort Frieden auf ihren Wappen und Losungen trug und doch nur Befriedung und Einschläfern, im Klartext: „Ruhe im Karton!“ meinte. Girke arbeitete diskret und mit weißen Handschuhen im Hinterland der unsichtbaren Front. Er ließ sich „das Mädel“ von den Genossen ausreden und fügte sich damit eine tiefe Beschädigung zu, die für die Anbindung an den Übervater, den doppelten Erich (Mielke/Honecker), um so wichtiger war, denn: was ihn nicht unterkriegte, machte ihn stark.

Vor kurzem offerierte mir eine kanadische Journalistin, die einen ausschließlich befreiten und ultimativ glücklichen Ostler interviewen wollte, nach anderthalb Stunden Differenzierungsversuchen meinerseits entnervt die Suggestivfrage: was finden Sie nun besser — Polizeistaat oder Mickeymouse-Land? Ich sagte, so einfach lagen und liegen die Dinge nicht. Und doch ist der Schwarze Kasten heilsam für alle, die in diesen wirren Zeiten trauernd die Wunden jüngster Verluste lecken, und ein Segen für den, der da ahnt, welcher Krake er — wodurch auch immer — wenigstens physisch entgangen ist. Jochen Girke, der personifizierte Spiegel des vertrauten Ohnmachtsbewußtseins der DDRler, war beileibe kein Unhold, eher ein fast gewöhnlicher „Deutscher aus der DDR“, und seiner Denkweise begegnet(e) man längst nicht nur dort, wo dieser Film sie aufspürt.

Und: Der Schwarze Kasten lebt von seiner noch immer beschränkten, zuweilen masochistischen Ehrlichkeit. Immerhin hat er den Mund aufgetan, auch weil keiner mehr mit ihm redet, zum ersten Mal bei einer Lesung aus Stasi-Protokollen — so schließlich kam dieser Film zustande.

Perverserweise möchte man meinen: schade, daß die Stasi diesen Film über ihre Strukturen den eigenen Leuten nicht mehr wirksam einhämmern kann, aber vielleicht wär' das mal ein Tip für die Arbeitsämter, denn Leute wie Girke dürfen ja heute nicht einmal mehr Straßen kehren. Und ob sie tagsüber zu Hause allein zu brauchbaren Einsichten kommen, ist arg zu bezweifeln. Offenbar sitzen die Girkes fast alle daheim herum und wissen nicht, wohin mit sich. Man muß ja nur mal versuchen, vormittags in einem dieser „speziell sauberen“ Neubaugebiete, ob in Ost- Berlin, Potsdam oder sonstwo, einen Parkplatz zu finden.

Der schwarze Kasten , von Tamara Trampe und Johann Feindt, mit Jochen Girke u.a., BRD 1991, 94 Min.