Barfuß im Schuh

■ Heiner Müller las Walter Benjamin ohne Socken im Deutschen Theater

Die Drinks kann ich nicht mit reinnehmen, und so rufe ich quer durch den Saal: »Ellen, Süße, kommste mal raus, wir müssen draußen trinken, wegen der heiligen Atmosphäre!« Und so kommt es, daß wir die letzten sind, und ich sag' noch zu einer Theaterangestellten: »Er kann doch schon mal anfangen.« »Neinnein«, sagt sie freundlich, »wenn er anfängt, dürfen sie nicht mehr rein.« Nun, dann muß er eben warten, bis wir fertig sind.

Ich bin nicht ganz freiwillig hier, eigentlich sollte Kollege Werner darüber schreiben, aber der guckt heute Fußball, und ich brauch' dringend Knete.

Wir klettern durch die dritte Reihe auf unsere Plätze zu, der Saal ist nicht ganz voll, auf den ersten Blick sieht es aus wie eine Versammlung von Philosophiestudenten und Theaterabonnenten. Auf den zweiten auch.

Müller betritt die Bühne, bescheidener Gestus, unauffällig geradezu, setzt sich an den rustikalen Holztisch (hellbraun, mattlackiert), greift sich aus der Batterie Bücher, die mit Zetteln gespickt sind, das erste raus und beginnt. Er trägt keine Socken. Er ist aufgeregt am Anfang, seine Stimme hat was vom Vollmerschen Timbre, aber das legt sich bald.

Benjamin hat viele schöne Sachen geschrieben, zum Beispiel über Kiffen in Marseille, und mir was ganz Wichtiges mitgegeben: Im Alltäglichen, im ganz Konkreten, im Kleinen, im Kaffeesatz das Gesamte erkennen, das Klassenverhältnis. So macht historischer Materialismus Spaß. Ansonsten jede Menge feinsinniger Betrachtungen, Bildungsbürgerkacke, an der sich Leute ergötzen, die 'Zeit‘ lesen und Christa Wolf.

Müller liest stockend und nuschelnd, bei manchen Sätzen war ich tatsächlich gespannt, wie sie enden, und als es endlich soweit war, wußte ich nicht mehr den Anfang. Am besten waren noch die Anekdoten, wie die über den zaristischen Minister Potjemkin, der depressiv in seinem Gemach hockt und sein Ich verloren hat und deshalb Dekrete mit fremdem Namen unterschreibt. Müller macht daraus eine Allegorie über den Untergang der DDR. Naja.

Die Sitze sind sehr bequem, ich kann meinen Kopf auflegen und dösen. In die Oberkante der Lehnen sind Gitter eingelassen, aus denen kühle Luft strömt. Eine gute Idee. Als mein Atem zu gleichmäßig wird, stößt mich Ellen an. Ich sehe, daß Heiner noch etliche Spickzettel in den Wälzern zu klemmen hat, und befürchte, nicht durchzuhalten. Hin und wieder verfolge ich einen Satz und verliere ihn auch gleich wieder. Ich überlege, ob ich nicht aufstehen soll und gehen. Aber das wär' mir peinlich, so weit vorne, wie ich sitze. Aber ich könnte ja auf die Bühne gehen und Müller die Hand geben: »Nehmses nich persönlich, ich hab' nur zuwenig geschlafen.«

Nein, ich bleibe sitzen und guck' mir das Publikum an. Einer sieht aus, wie Edgar Hilsenrath aus dem Gesicht geschnitten. Ist es Edgar Hilsenrath? Er sitzt zu weit weg, als daß ich ihn fragen könnte, ohne zu stören. Die Menschen sehen sehr konzentriert aus. Ob ich auch konzentriert aussehe?

Ich mag Müller sehr. Und wenn er seine eignen Texte liest, kann man ihm auch zuhören. (Er ist ein guter Kopf, was ihn aber nicht davor feit, Mist zu machen, zum Beispiel Hörspiele mit Heiner Goebbels, abscheuliche Oberprimaner-Avantgarde, verschnarcht, zeitschindend, nichtssagend.)

Am Schluß habe ich dann doch geklatscht, länger als nötig, quasi als Entschädigung für die häßlichen Gedanken — man ist ja kein Unmensch... Stein