Ein Dorf widersteht dem Rassismus

Breitenheerda in Thüringen zählt 300 EinwohnerInnen/ Demnächst sollen hier 500 AsylbewerberInnen in Wohnblocks der früheren Nationalen Volksarmee untergebracht werden/ Die Gemeinde fühlt sich von der Regierung übergangen  ■ Von Henning Pawel

Breitenheerda (taz) — „Eine glücklichere Zeit war's“, sagt die alte Bäuerin traurig. „Man war ein bißchen wer als Bauer und wenn man sich beschwerte, hat es gar nicht mal so selten was genützt. Zumindest die beim Kreis haben Angst bekommen, daß wir weitergehen zum Bezirk oder gar zum Honecker. Heute kannst du gehen, wohin du willst, es nützt gar nichts. Weil jetzt alles Demokratie ist und nun niemand mehr abgesetzt werden kann.“

Breitenheerda, ein Dorf 30 Kilometer von Erfurt und 14 von Rudolstadt entfernt. Tiefste, idyllische Thüringer Provinz. Urdeutsche Kulturlandschaft. Ganz in der Nähe des Mysteriums größer reinster Liebe, Schloß Großkochberg. Charlotte von Stein und Goethe haben sich hier ganz tief in die Augen gesehen. Lange Jahre ist er hier durchgepilgert, hin zur Angebeteten. Ohne sie — behaupten allen Ernstes Literaturwissenschaftler — auch nur ein einziges Mal zu berühren.

Der Streit, ob Charlotten mit Goethe sündigte oder nicht, interessiert freilich keine der 297 Seelen des Dorfes Breitenheerda. Die haben andere Sorgen. 500 AsylbewerberInnen werden in den nächsten Monaten in der winizgen Gemeinde untergebracht. Nicht eine einzige Telefonzelle, die Gaststätte zählt gerade mal zwanzig Sitzplätze. Kein Arzt, keine Schwester. Nur zweimal am Tag kommt der Bus durch. Ein Krankenwagen oder die Polizei benötigen bei den chaotischen Verkehrsverhältnissen eine runde Stunde.

Warum gerade Breitenheerda, mit einer Infrastruktur, die schon in DDR-Zeiten für die Einwohner eine absolute Zumutung war? Bürgermeister Burkhard Jung, 34, parteilos, weiß die Antwort: „Weil wir nur so wenig Menschen sind. Auf unsere paar Stimmen können die oben verzichten.“

Das Dorf wird von einer freien Wählergemeinschaft regiert. Die zweitstärkste politische Gruppierung — die PDS. Sie erhielt bei den Wahlen etwa 30 Prozent. Das hat mit jenem NVA-Objekt am Dorfrand zu tun, in dem die Asylsuchenden, bis jetzt 100 Personen, davon 70 Roma und Sinti, untergebracht werden. Eine Fla-Raketen-Einheit war hier stationiert. Das Unteroffiziers- und das Offizierskorps hatten direkt neben der Kaserne ihren Wohnblock. Dort wohnen die meisten der fast sämtlich arbeitslosen Soldaten und ihre Familien auch heute noch.

Hochwillkommen waren in DDR- Zeiten die Soldaten dieser militärischen Einheiten in den meisten Dörfern. Als Schwiegersöhne ohnehin. Auch als tüchtige und stets präsente Erntehelfer. Die Entlohnung der Soldaten im Herbst, ein Schlachtfest, mehr nicht. Und natürlich war die Dienststelle einer der größten Arbeitgeber des Dorfes.

Und so ist der junge Bürgermeister nicht bereit, auch nur ein böses Wort über die Nationale Volksarmee zu verlieren.Fast verlegen erklärt er: „In der Asylsache jedenfalls arbeiten wir ganz eng zusammen. Da gibt es kein Parteiengezerre. Damit können wir ja hinterher wieder anfangen. Bei uns hier war das aber nie ein Problem. Wir haben immer gut zusammengelebt.“

Die Geschichte jenes NVA-Objekts: Zum Kauf hatte es die Bundesvermögensverwaltung ausgeschrieben und der Gemeinde Hoffnungen gemacht. Zirka fünf Hektar Gelände samt Gebäuden. Sogar einen Investor hatten die Bauern selbst gefunden. Einen bayerischen Produzenten von Sattelaufliegern mit 100 garantierten Dauerarbeitsplätzen. „Wir dachten, daß nun auch für uns mal ein bißchen Freude über die Wende aufkommen kann“, erzählt ein älterer Mann bitter. „Schießlich sind 25 Prozent arbeitslos und es werden immer mehr.“ Dann kam plötzlich, ohne jede Absprache mit dem Gemeinderat, die Information vom Landkreis, daß ab September 1991 in diesem Objekt neunzig rußlanddeutsche Familien untergebracht werden sollen. „Nicht einer im Dorf“, schwört der Bürgermeister, „hatte etwas gegen sie. Nur, wir haben gesagt: Was soll denn das, sie in der Kaserne zusammenzupferchen. Wir haben uns mit den anderen Dörfern zusammengesetzt, und jede Gemeinde erklärte sich betreit, einige Familien aufzunehmen. Da wären sie doch gleich von Anfang an unter uns gewesen.“

Nicht einmal eine Antwort auf den gescheiten Vorschlag. Dafür aber dann im Frühjahr 1992 der nächste Akt des Dramas: Beschluß des Sozialministeriums in Erfurt, eine Landessammelstelle für AsylbewerberInnen in Breitenheerda einzurichten. Kein Protest des Dorfes nützte. Noch nicht einmal gehört wurde der Gemeinderat. Subalterne MitarbeiterInnen überbrachten, wie gehabt, dem Gemeinderat die höchstministeriellen und landrätlichen Entscheidungen. Schließlich am 23.April 1992 die Übergabe des Objekts an die Heimbetreibergesellschaft K&S aus Bremen, wieder ohne den Gemeinderat auch nur zu informieren.

Der Vollstrecker jener Gesellschaft im Osten — ein Dr.Reimann. Auf die Vorhaltungen des Bürgermeisters erklärte er zynisch: „Man hat euch nicht gefragt, als dieses Objekt gebaut wurde und braucht euch auch jetzt nicht zu fragen.“ Der Mann weiß, wovon er spricht. Schließlich brauchte er als Oberstleutnant und Lehroffizier der NVA an der Militärakademie Kamenz, bei Dresden, außer seinen Vorgesetzten wirklich niemanden zu fragen. Das Fußvolk, im konkreten Fall die Bauern von Breitenheerda, schon gar nicht. Nun sind die Asylsuchenden da. Aber nicht die geringste Infrastruktur. Selbst der Bürgermeister hat kein Telefon. Und die Investor- Firma ist wieder weg. Vom Landrat, Dr.Thomas, CDU, auf das herzlichste nach Rudolstadt eingeladen, um dort zu investieren. Die Menschen im Dorf sind verzweifelt. Über ihre andauernde Machtlosgkeit und den unglaublichen Zynismus, mit dem man ihnen begegnet. Und dennoch. Man muß schon fast von einem Wunder reden. Und rührend ist das alles auch. Nicht ein einziger im Dorf war zu finden, der sich in Gehässigkeiten gegen AusländerInnen oder gar in Rechtsradikalismus erging. Sogar mit 50 bis 100 Asylsuchenden sind die geduldigen Menschen von Breitenheerda jetzt einverstanden. „Die Leute müssen ja irgendwohin. Aber mehr kann das Dorf nun wirklich nicht verkraften“, sagt mir eine arbeitsloser Landmaschinenschlosser. Und dann sehr besorgt: „Die Nazis waren doch auch schon da. Mit denen will aber hier keiner was zu tun haben. Noch nicht jedenfalls. Selbst die nicht, denen die Zigeuner schon ein paarmal die Hühner gemaust haben. Und obwohl es wegen der riesigen Lagerfeuer am Dorfrand, bei dieser Trockenheit, an denen die Hühner in aller Öffentlichkeit gebraten wurden, genug Aufregung gab — die Feuerwehr mußte dreimal ausrücken — war keiner im Dorf bereit, mit den Nazis mitzujohlen. Nur, wenn das so weitergeht ...“

Auch bei den arbeitslosen Berufssoldaten und Offizieren ist nichts von Ausländerfeindlichkeit zu hören. Obwohl nach dem Willen ihres einstigen Genossen, Dr.Reinhard, auch ihr Wohnblock freigemacht werden soll für die Asylbewerber. Die derzeitigen Bewohner sollen, welch ein Geschäft für den smarten Herrn Oberstleutnant a.D., von ihm vermittelte „preisgünstige Fertighäuser auf preisgünstigem Gemeindeland“ bauen können. Bloß womit? Ein paar haben noch ABM-Stellen. Der ganze große Rest der jungen Leute sitzt verloren, verraten und verkauft auf den Bänken vor dem Wohnblock. Gerade rollen wieder zwei PKWs mit Sintis vorbei. Demonstrativ werden Fahrkunststückchen vorgeführt, kreischen Bremsen, lachen sich die tollkühnen schwarzgelockten Männer und ihre buntgekleideten Frauen halbtot über die kopfschüttelnden Soldaten. „Sind halt Multikulturelle“, sagt ein Leutnant Schmidt belehrend. Ein Hauptmann: „Wenn ich bloß wüßte, was das eigentlich bedeutet. Die Regierung aber wird es schon wissen. Die hat auch die Leute hier im Dorf kürzlich aufgefordert, die Asylsuchenden doch regelmäßig zum Kaffeetrinken einzuladen und mit ihnen herumzugehen.“

Ein Dorf im Osten. Wie schon so oft in seiner Geschichte im Stich gelassen. Die Regierung, der Landrat, wie in der guten alten Zeit, arrogante Ignoranz gegenüber den Hauptbetroffenen. Den Protesten der mächtigen Städte Jena, Erfurt und Gotha mit Hunderttausenden von Wählern, wurde nachgegeben. Die kleine Gemeinde Breitenheerda aber hat keine Stimme. Erst wenn, was absehbar ist, die verzweifelten Menschen zum einzigen Mittel greifen, das ihnen noch bleibt, zur Gewalt, werden Politikerkommissionen vor Ort reisen und ganz fassungslos in die Kameras fragen, wie es nur so weit kommen konnte.