Volk entscheidet — CDU streitet

94 Prozent Jastimmen für Brandenburger Verfassung/ Geringere Abstimmungsbeteiligung in ökonomischen Krisengebieten/ Fink und Diestel streiten weiter/ Verfassung ab September in Kraft  ■ Von Bettina Markmeyer

Potsdam/Berlin (taz) — Dem Potsdamer Abstimmungsausschuß dauerte alles zu lange. Als der Landeswahlleiter am Sonntag gegen Mitternacht das vorläufige amtliche Endergebnis des Verfassungs-Referendums bestätigen lassen wollte, waren die fünf Damen und Herren verschwunden. So gab's die endgültigen Zahlen erst am Montag: Bei einer Beteiligung von 47,9 Prozent stimmten 94 Prozent der BrandenburgerInnen für und 6 Prozent gegen die Verfassung, die der Landtag verabschiedet hatte.

Obwohl die oppositionelle CDU unter der Führung von Ulf Fink ihrer Klientel empfohlen hatte, die Verfassung abzulehnen, stimmten 80 Prozent der CDU-AnhängerInnen mit Ja. WählerInnen der Regierungskoalition aus SPD, Bündnis 90 und FDP sowie PDS-AnhängerInnen sprachen sich mit 98 Prozent fast geschlossen für die Verfassung aus.

Peter-Michael Diestel, Finks Rivale, empfahl dem CDU-Landesvorsitzenden noch am Sonntag, zurückzutreten. CDU-Generalsekretär Klein warf Diestel daraufhin parteischädigendes Verhalten vor.

Fink will bleiben und versuchte von seiner Niederlage abzulenken, indem er die niedrige Abstimmungsbeteiligung in eine Schlappe für Manfred Stolpe uminterpretierte. Wie erwartet wertete dagegen der Ministerpräsident die hohe Zustimmung als „persönlichen Vertrauensbeweis“. Die geringe Wahlbeteiligung zeige lediglich, daß wirtschaftliche und soziale Probleme die Bevölkerung so stark beschäftigten, daß sie die Verfassungsfrage für zweitrangig hielten.

Die von dem Meinungsforschungsinstitut „infas“ gestellte „Sonntagsfrage“ bestätigte den Landeschef: Bei einer Landtagswahl würden derzeit nur 17 Prozent der BrandenburgerInnen CDU, aber 53 Prozent SPD wählen. Nach einer weiteren infas-Umfrage stimmten 71 Prozent insbesondere wegen des in Artikel 48 verankerten Rechts auf Arbeit und 62 Prozent wegen des Rechts auf eine Wohnung mit Ja. 42 Prozent halten die sozial und ökologisch orientierte Verfassung für besser als das Grundgesetz.

Die Wahlbeteiligung war in den Städten generell höher als auf dem Land. In mehreren Kreisen rund um Berlin lag sie bei 58 Prozent, in Potsdam bei 55; die Zustimmung lag hier leicht über dem Durchschnitt. Im Osten Brandenburgs — im Kreis Eisenhüttenstadt und in Schwedt —, wo Schwer- und Chemieindustrie zusammenbrechen, lag die Ablehnung der Verfassung mit über 13 Prozent am höchsten. In Schwedt gingen nur 35 Prozent der BürgerInnen zur Urne— was teils als Gleichgültigkeit oder Resignation, teils aber auch als Ablehnung zu werten ist.

Obwohl Rolf Wettstädt vom Bündnis 90 die BürgerInnen aufforderte, nun von ihren Rechten zur Mitgestaltung Gebrauch zu machen und darauf hofft, „daß jede Woche 1.000 Klagen bei den Gerichten eingehen“, wird sich konkret für die BrandenburgerInnen noch bis zum September nichts ändern. Denn erst dann tritt die Verfassung endgültig in Kraft, dann erst wird auch ein Verfassungsgericht installiert. Nicht wenige der jetzt geltenden Gesetze und Verordnungen, beispielsweise die Zugangsregelungen für weiterführende Schulen, dürften mit Hilfe der Verfassung angefochten und teils geändert werden.

Das Verbandsklagerecht ermöglicht Naturschutzverbänden in planungsrechtlichen Auseinandersetzungen — etwa um Straßenbau oder Golfplätze — vor Gericht zu ziehen. Im Streit um Kindertagesstätten beispielsweise könnte eine Volksinitiative ein Gesetz initiieren, das die Schließung weiterer Horte verbietet. Damit müßte sich dann der Landtag beschäftigen. Die Rechte auf Arbeit und Wohnung sind nicht individuell einklagbare Staatsziele. Niemand kann sich also mit Verweis auf die neue Verfassung einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung erklagen.