DEBATTE
: Wer kontrolliert den 'Spiegel‘?

■ Der Fall Lafontaine wird zur 'Spiegel‘-Affäre

Allmählich reicht's. Die Blüte des deutschen Journalismus, die feine Riege der Chefredakteure, tunkt in vertrauter Runde ihre feine Goldfeder ins Blut, und plötzlich liegt er da, ihr Haßliebling Oskar Lafontaine. Die kleine Güte, wenigstens ein leibhaftiges Attentat als Satisfaktion für die Frechheit eines Spitzenkochs zu akzeptieren, konnten sie für diesmal noch nicht aufbringen, da üben sie noch. In den USA stürzen die Politiker über Sex, bei uns über Geld — das ist die prägnanteste Kurzformel für das, was diese und jene Welt im Innersten zusammenhält. Im äußersten hält die Herren eine auch sehr feine Lust beieinander, alles in Deutschland, was Talent, Charisma und Besonderheit hat, baldmöglichst, wenn schon nicht unter die Erde, dann doch wenigstens an oder über die französische Grenze zu verbannen (Adieu Marlene Dietrich und Heinrich Heine, Romy Schneider und Rainer Werner Fassbinder...) Es geht ein Mensch und kommt ein neuer Seidenhemdträger. Herzlichen Glückwunsch!

Wenn schon Abgang zu vermelden ist, dann annoncieren wir doch gleich einen weiteren Exitus: Mit dem alten 'Spiegel‘ ging ein politisches Magazin von Weltrang, mit dem neudeutschen 'Spiegel‘ kam ein Allerweltsblättchen des feingestrickten Populismus, die 'Bild‘-Zeitung für den Mittelstand.

Machtzuwachs und Bedeutungsverlust

Die Jahre der großen revolutionären Umbrüche haben nichts beim alten gelassen — und irgendwann in diesen wildbewegten Zeiten hat auch der 'Spiegel‘ seine Ehre verloren. Das ist der kleine schicksalhafte Unterschied: Oskar Lafontaine beendete im Jahr der deutschen Einheit seine Karriere als Populist und wurde ein Politiker für Unpopuläre — der 'Spiegel‘ hörte zu eben dieser Zeit auf, ein Instrument der aufgeklärten politischen Vernunft zu sein, und begann, den Leuten nach dem Munde und in den Adrenalinspiegel hinein zu titeln (beliebige Beispiele aus der letzten Zeit: Die Männer schlagen zurück!, Die Luxuspolitiker [Lafontaine], Der Drahtzieher [Gysi], Der ausgebeutete Patient [du und ich]). Bei diesen unterschiedlichen Richtungsänderungen müßten die beiden mit Gesetzmäßigkeit aufeinandertreffen. Über das Ergebnis dieser High-Noon-Knallerei konnte von Anfang an kein Zweifel bestehen — es war ein Kampf mit ungleichen Waffen.

Wer das wunderbare Glück hatte, im Jahre 1945 statt mit Handfeuerwaffen und „Produktionsmitteln“ (Augstein) lieber mit Murmeln zu spielen, muß sich nicht lange mit Rudolf Augstein abgeben. Zu ihm nur soviel: ein Mann, der den würdevollen selbstbestimmten Zeitpunkt verpaßt hat, der in der vielgescholtenen politischen Klasse seit Jochen Vogel und Hans-Dietrich Genscher Schule macht. Der Geist, der ihn seit langem inspiriert, tropft aus jeder Zeile. Es fragt sich nur, warum sich unter der ganzen glorreichen Reihe der 'Spiegel‘-Redakteure niemand findet, der Manns genug wäre, ihm aus Freundschaft mal in die Feder zu greifen. Soviel Courage müßte bei dem Gehalt doch drin sein.

Nimbus einer allmächtigen Instanz

Am Ende der Ära Augstein hat der 'Spiegel‘ an Bedeutung verloren und an Macht gewonnen. Nichts ist schwieriger in der politischen Welt, als veränderte Rollenbilder — sei es nun Machtzuwachs oder Machtverlust — bei sich selbst zu registrieren. Am schwierigsten fällt es im Zentrum des Machtpools. Wer sich aufmacht, beim 'Spiegel‘ selbst ein Bewußtsein oder gar eine Debatte über die Veränderungen zu finden, die alle Welt registriert, trifft auf eine merkwürdige, fast unschuldige Ahnungslosigkeit. Das hat Methode, und es hat Geschichte.

Methode hat es insofern, als auf den 'Spiegel‘-Redakteuren — darunter noch immer jede Menge exzellenter Rechercheure — ein immenser Druck lastet, was Nähe zu sensationstauglichen Stoffen, Faktengenauigkeit und juristische Fehlerfreiheit betrifft. Dieser Druck des Elitebewußtseins eines journalistischen Kaders wird jedoch mehr als ausgeglichen durch eine völlige Entlastung von politischer Verantwortung für das, was man tut. Was aus den Geschichten gemacht wird, welcher Titel dazu die sinnliche Anschauung liefert, welche Zusatzinformationen konterkarieren, in welcher Sprache die Geschichte aufgemotzt wird, entzieht sich der Einflußnahme des einzelnen Redakteurs — „das macht Hamburg“. Die Anonymität schluckt alles, ja sie verstärkt direkt den Nimbus jener allmächtigen Instanz, die sich anmaßt, die Welt abzubilden. In dieser entlastenden Anonymität liegt eine merkwürdige Nähe zu geheimdienstlichen Methoden. Das zeigt sich bis in die Sprache der Artikel hinein, deren gelegentlicher Hang zu Inhumanitäten und boshaften Niedrigkeiten wie genormt wirkt. Das zeigt sich auch in der Außenwirkung: in der wachsenden Furcht und der devoten Anbiederung, die die politischen Akteure mehr und mehr gegenüber dem 'Spiegel‘ als Instanz einnehmen. Jeder in Bonn kann eben der nächste Gejagte sein — ein typisches Gefühl der Ohnmacht und Abhängigkeit, wie es nur in tyrannischen Verhältnissen gang und gäbe ist.

Entstanden ist diese Methode allerdings aus einer Geschichte der Befreiung, jedenfalls des befreiten Wortes. In der Bundesrepublik der Nachkriegszeit, in einem Volk von Mitläufern, treuen Beamtenseelen, autoritätsgläubigen Parteipolitikern und des mutigen, frechen Wortes noch ungeübter Journalisten war die Methode des 'Spiegels‘ — inklusive des anonymen Recherche-Journalismus — die einzige Möglichkeit, Spiegel der Wirklichkeit zu sein. Von daher wirkte er emanzipatorisch, als Schule des Journalismus. Das bleibt das große Verdienst des 'Spiegels‘, aber es ist Geschichte. Dieselbe Methode, die damals dazu beitrug, einige Wahrheiten ans Tageslicht zu befördern, dient heute in der Regel dazu, rachebedürftige Beamte zu decken (wie in den Fällen Lafontaine und Süssmuth), schwatzhafte Politiker aus der Verantwortung zu entlassen, niedrige Instinkte beim Leser zu bedienen und den Machtzuwachs des Opus Dei des 'Spiegels‘ zu verschleiern.

Wer kontrolliert den 'Spiegel‘? — Die Antwort heißt: derzeit niemand.

Die vierte Gewalt ist von der Rolle und strömt unkontrolliert in das Vakuum ein, das der Niedergang der politischen Klasse, der Exekutive und der Legislalative, geschaffen hat. Das wäre ja alles nicht weiter tragisch, wenn die vierte Gewalt die vierte Gewalt kontrollieren würde, wenn also die Medien wenigstens das Problem diskutierten, das für eine demokratische Gesellschaft dadurch entsteht, daß in ihr solche unkontrollierten Machtpools wachsen. Aber den 'Spiegel‘ zu thematisieren gilt unter den oben genannten feinen Herrn als unfein. Sie spiegeln sich noch im Spiegelsaal, während der 'Spiegel‘ längst Politik macht und Politiker kommen und gehen läßt, wie es ihm gefällt.

Ende der Gewaltenteilung

Das ist die Zäsur, die den Fall Lafontaine zum Fall des 'Spiegels‘ macht. Noch im Fall de Maizière, sogar im Fall Stolpe gab es so etwas wie eine Gewaltenteilung zwischen den politischen Medien, die Für und Wider, Angriff und Solidarität aufteilten und damit zum differenzierten politischen Urteil der Öffentlichkeit beitrugen. Der Triumphalismus, mit dem der 'Spiegel‘ von Anfang an Oskar Lafontaine zum Blattschuß freigab — und alle, alle jagen mit —, machte ihn endgültig zum Leitorgan des Kampagnen-Journalismus, gegen den niemand mehr aufzumucken wagt.

Wie bitte? Der Fall Oskar Lafontaine sei eben ein Sonderfall, ein Fall von einmalig eindeutiger Schuldhaftigkeit, der keine pluralistische Debatte des Für und Wider zugelassen habe? Ach so, ich verstehe. Da haben wir nun endlich den „doppelten Oskar“, den Rudolf Augstein in seinem letzten Kommentar vergeblich zu erhaschen suchte. Erst ist er so frech und ermannt alle deutschen Journalisten, die ihm mannhaft beiseite treten wollten, durch einmalige Dösigkeit — und dann legt sich das Biest noch freiwillig als Opfer unter die vielen feinen, extra für ihn gespitzten Federn. Antje Vollmer