Ein rascher, großer Abrüstungsschritt

Bush und Jelzin vereinbaren weit über den START-Vertrag hinausgehende Einschnitte in die strategischen Atomwaffenarsenale/ Jelzin: „Das ist der schönste Tag meines Lebens“  ■ Von Andreas Zumach

Genf/Washington (taz) — Die USA und Rußland haben sich auf den bislang größten Sprung in der Geschichte der Abrüstung geeinigt. Die beiden Mächte wollen ihre strategisches Atomwaffenarsenale bis spätestens zum Jahr 2.003 weit stärker verringern, als der erst im Juli letzten Jahres in Genf noch zwischen den USA und der Ex-Sowjetunion vereinbarte START-Vertrag vorsah. Das gaben die Präsidenten Bush und Jelzin zu Beginn ihres Washingtoner Gipfeltreffens bekannt. Statt der im START-Abkommen vorgesehenen Reduzierung der Zahl atomarer Sprengköpfe von heute jeweils rund 12.000 auf 8.500 bis zur Jahrtausendwende sollen im Jahr 2.003 auf jeder Seite nur noch zwischen 3.000 und 3.500 Sprengköpfe existieren. Landgestützte Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen sollen völlig abgeschafft werden. „Der schönste Tag meines Lebens“, schwärmte Boris Jelzin, der die Vereinbarung als „beispiellos“ würdigte. Bush betonte: „Mit diesem Abkommen verschwindet der nukleare Alptraum mehr und mehr für uns, unsere Kinder und unsere Enkel.“

Das Abkommen überrascht tatsächlich. Die Außenminister Baker und Kosyrew hatten sich nämlich trotz tagelanger, intensiver Vorverhandlungen in der letzte Woche zwar auf eine künftige Gesamtobergrenze von jeweils 4.700 Sprengköpfen, nicht aber auf ein Mischungsverhältnis zwischen land-, see- und flugzeuggestützten Atomwaffen hatten einigen können. Washington hatte die völlige Verschrottung der von den USA besonders gefürchteten landstationierten SS-18 mit Mehrfachsprengköpfen gefordert, war aber im Gegenzug lediglich bereit, sein überlegenes Arsenal auf U-Booten und Schiffen um ein Drittel zu reduzieren. Jelzin machte gegenüber Bush jetzt das Zugeständnis, die SS-18 ganz abzuschaffen. Die USA werden dafür auf ihrer Seite die mit Mehrfachsprengköpfen ausgerüsteten landgestützten Minutmen- und Peacekeeper-Raketen verschrotten. Sie spielten im strategischen Arsenal der USA ohnehin nie eine zentrale Rolle. Das entscheidendere Entgegenkommen Washingtons liegt in der Vereinbarung einer Begrenzung auf 1.750 seegestützte Sprengkörper innerhalb der künftigen Gesamtobergrenze von 3.000 bis 3.500 Sprengköpfen auf strategischen Atomwaffen. Das bedeutet statt der Reduzierung um ein Drittel die Halbierung des seegestützten Arsenals der USA. Die restlichen 1.220 bis 1.750 Sprengköpfe können nach Belieben auf Landraketen oder auf Bomben und Abstandwaffen für Kampfflugzeuge montiert werden. Laut Bush könne die vereinbarte Abrüstung schon bis zum Jahr 2.000 erfolgen. Ihr Tempo hänge davon ab, inwiewweit die USA Rußland bei der Vernichtung der Waffen und Sprengköpfe technologisch und finanziell unterstützen können. Bei der Berechnung derzeitiger Bestände und künftiger Reduzierungen bezogen die USA und Rußland die heute noch in der Ukraine und in Kasachstan stationierten strategischen Atomwaffen voll mit ein. Washington und Moskau gehen offensichtlich davon aus, daß diese Waffen in absehbarer Zeit nach Rußland transportiert werden. Zwar liegen entsprechende Absichtserklärungen, jedoch keine rechtsverbindlichen Zusagen der Regierungen Kaschstans und der Ukraine vor.

Bush und Jelzin vereinbarten außerdem im Prinzip die Zusammenarbeit beim Aufbau nicht nur eines Frühwarnsystems, sondern auch eines „weltweiten Schutzsystems gegen begrenzte Raketenangriffe“ (GPALS) dritter Staaten. Über „praktische Schritte“ sollen Experten beider Seiten innerhalb eines Monats in Moskau beraten. Unklar blieb zunächst, inwieweit Jelzin damit endgültig auf das vom ursprünglichen SDI-Vorhaben der Reagan-Administration abgeleitete GPALS- Programm Washingtons eingeschwenkt ist. Über eine in diesem Zusammenhang von Washington seit Jahren verlangte Modifizierung oder gar Aufkündigung des Raketenabwehrvertrages (ABM) von 1972 erzielten die beiden Präsidenten offensichtlich keinen Konsens. Sie sei „notwendig“, betonten lediglich Sprecher der Bush-Administration.