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Polyphone Rasterfahndung

■ Amerika, New Jersey, 1939: Gilbert Sorrentinos raffinierter Roman „Die scheinbare Ablenkung des Sternenlichts“

Den Charakter eines spezifischen Milieus zu intonieren, das war Gilbert Sorrentinos Absicht, als er Ende der sechziger Jahre seinen Roman Steelwork schrieb. Geschult an den Dublinern von James Joyce, entwarf er das splitterhafte Bild Brooklyns, des größten New Yorker Stadtteils, der zwischen 1935 und 1951, der Zeit von Prohibition, Zweitem Weltkrieg, Korea- Krieg und McCarthy, von zunehmender Brutalität, Angst und Not beherrscht war.

Gilbert Sorrentino, der 1929 geboren wurde und in Brooklyn aufgewachsen ist, hatte in den fünfziger Jahren, beeinflußt von William Carlos Williams und Ezra Pound, zusammen mit Hubert Selby in den Literaturzeitschriften 'Neon‘ und 'Kulchur‘ zu publizieren begonnen. Mit seinem zweiten Roman Steelwork, einer Art Echo auf Selbys Letzte Ausfahrt Brooklyn, war ihm 1970 in den USA der literarische Durchbruch gelungen.

New Jersey, Sommer 1939: Der zehnjährige Billy Recco, seine Mutter Marie und deren Vater, der verwitwete John McGrath, verbringen wie jedes Jahr ihre Ferien auf der Stellkamp-Farm. Mit von der Partie der Handelsreisende Tom Thebus. Billy und Marie Recco, John McGrath und Tom Thebus sind die Protagonisten des Romans — genauer: ihre komplexen Beziehungen, ihre Erinnerungen und Begierden sind es; zentrales Ereignis ist ein abendlicher Tanz-Ausflug Maries mit Tom.

Es ist das Erzählverfahren, mit dessen Hilfe Sorrentino die trivial anmutende Geschichte dieses Abends, samt seiner Hintergründe und Folgen, nun zu einem aufregenden Vexierspiel disparater Gefühlszustände werden läßt. Wie Steelwork, dessen vor-rückendes Erzählen nach dem Prinzip von Fuge, Kontrapunkt und „komplementärer Ironie“ komponiert war, hat auch Die scheinbare Ablenkung des Sternenlichts eine strenge, symmetrische, fast könnte man sagen: eine demokratische Form. — Sorrentino rekonstruiert die Geschichte des Abends als Synopse personenbezogener, subjektiver Sequenzen — in vier profanen Evangelien, wenn man so will. Das heißt: Er spiegelt die divergierenden Wahrnehmungen und Standpunkte des Figuren-Quartetts in vier identisch strukturierten Kapiteln, deren je zehn Abschnitte einem festgelegten Turnus unterschiedicher „Textsorten“ folgen: Briefen, Dialogen, Fragekatalogen, Brief- Entwürfen, Traumsequenzen, erlebter Rede, innerer Monologe und so weiter.

Die analoge, multi-perspektivische Erzähltechnik gleicht einer literarischen Rasterfahndung lebensgeschichtlicher Abhängigkeiten und zwischenmenschlicher Dialektik: Wie bei einem Puzzle setzt sich während der Lektüre langsam ein viel- schichtiges beziehungsweise viel- stimmiges Gruppen-Bild zusammen, ein vielfach gebrochenes Bild des Scheiterns.

Dessen entscheidende Koordinaten lassen sich etwa folgendermaßen skizzieren: John McGrath, das Oberhaupt einer irisch-amerikanischen Familie, ist seit kurzem verwitwet. Er ist befreundet mit der alleinstehenden, aus Deutschland stammenden Helga Schmidt. Marie, Johns attraktive Tochter, die mit Tony, einem Italiener, verheiratet war, hat sich während der Ferien in Tom Thebus verliebt. Ihr Sohn Billy hofft, in ihm den neuen, besseren Vater gefunden zu haben. Für Tom ist Marie lediglich eine Urlaubs-Affäre.

In diesem Vier-Eck, einem emotionalen Hexenkessel, toben die Ängste und Begierden. Tod und Trennung haben schmerzhafte, kaum verheilte Wunden geschlagen, die von sexuellen Obsessionen überwuchert werden: Was sie erinnern, begehren und was sie tun, mündet bei allen Figuren früher oder später in Orgien sexueller Phantasien, in offene oder schuldbewußte Lüsternheit.

Katalysator des Erzählten, der die Schleusen der Erinnerungen und Phantasien öffnet, ist nicht von ungefähr der abendliche Ausflug Maries und Toms. Auf der nächtlichen Heimfahrt war es zu einer verunglückten Auto-Nummer gekommen, bei der John McGrath seine Tochter und Tom überascht hatte. Tom Thebus war daraufhin am übernächsten Tag abgereist.

Beeindruckend an Sorrentinos Roman ist die Polyphonie seiner Erzähl- und Sprechweisen. Denn für jede Figur hat er in jeder Erzähl-Situation einen unverwechselbaren, adäquaten Ton: für die verschiedenen Persönlichkeits-Instanzen des unwissenden, naiven Kindes; des desillusionierten, herrischen Alten; der unter der Trennung leidenden und neu verliebten Tochter; des abgezockten Handelsreisenden.

Und meisterhaft ist, wie er nicht nur die Stimmen seiner Figuren — wie er außerdem die Stimmung eines konkreten Orts und eines historischen Moments anschlägt. Im Sommer 1939 hat die amerikanische Wirtschaftskrise nämlich ihren Höhepunkt erreicht, und im fernen Deutschland rüstet sich Hitler für seinen Überfall auf Polen.

Sorrentinos Die scheinbare Ablenkung des Sternenlichts ist ein virtuoses Sprach-Kunstwerk, nicht zuletzt eine Fiktion von quasi dokumentarischer Qualität. Wie Steelwork hat Joachim Kalka auch diesen Roman in ein bewundernswertes deutsches Äquivalent übertragen. Norbert Wehr

Gilbert Sorrentino: Die scheinbare Ablenkung des Sternenlichts. Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka, Maro-Verlag, Augsburg 1991, 295 Seiten, geb., 32DM.

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