Ein neuer Marshall-Plan für Osteuropa?

Massiver Kapitaltransfer in die Reformstaaten würde vor allem zu Lasten der Entwicklungsländer gehen  ■ Von Kurt Hübner

Inzwischen hat es sich herumgesprochen, daß sich der Übergang zu kapitalistischen Geld- und Marktwirtschaften in Osteuropa schwieriger gestaltet, als dies selbst von Experten zu Beginn der politischen Umbrüche angenommen wurde. Planwirtschaftliche Einrichtungen, Mechanismen und Regelungen abzubauen, ist eine Sache. Doch eine andere ist, markt- und geldwirtschaftliche Institutionen und Verfahren zu entwickeln — und so das zu befördern, was erforderlich ist: die Akkumulation produktiven Kapitals.

Das Problem liegt weniger darin, daß ein solcher Akkumulationsprozeß noch nicht richtig in Gang gekommen ist. Der angepeilte Übergang wird vielmehr durch die hohen ökonomischen, sozialen und politischen Kosten blockiert, die die Voraussetzungen für einen derartigen Akkumulationsprozeß verursachen. In allen Ländern, die den Übergang zur Marktwirtschaft suchen, schrumpfte der Kapitalstock in den letzten beiden Jahren drastisch zusammen. Die Produktion ging stark zurück, die Inflationsrate beschleunigte sich, und die Arbeitslosigkeit stieg kräftig an. Diese unausweichlichen rezessiven Tendenzen gehen politisch mit einer wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung, xenophobischen, nationalistischen und ethnischen Konflikten einher, die nicht zuletzt auch die Demokratisierungsprozesse in Gefahr bringen. Kurzum: Es entwickelt sich ein politisch-ökonomischer Regelkreis negativer Rückkoppelungen, der die emanzipatorischen Potentiale der Umbruchprozesse von 1989 zu verschütten droht.

Populäre Forderung nach zweitem Marshall-Plan

Schon aus purem politischem Eigeninteresse können es sich die westlichen Industrienationen und insbesondere die EG-Staaten nicht erlauben, der Tranformationskrise in den osteuropäischen Nachbarländern untätig zuzuschauen. Wie freilich die OECD-Länder in die Übergangsprozesse unterstützend eingreifen können und sollen, ist bis heute umstritten. Einigkeit besteht allein darüber, daß die Transformationsökonomien mit technischen, finanziellen und institutionellen Leistungen unterstützt werden müssen. Die schon zu Beginn der politischen Umbrüche laut gewordenen Rufe nach einem neuen Marshall-Plan für Osteuropa sind heute wieder aktuell. So hat beispielsweise die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (ECE) in ihrem jüngsten Bulletin ein umfassendes koordiniertes Hilfsprogramm unter dem Namen „Zweiter Marshall-Plan“ vorgeschlagen. Hierzulande hat der Friedens- und Entwicklungsforscher Dieter Senghaas für eine westliche „Politik des wohlverstandenen Eigennutzes“ geworben, die über einen Zeitraum von zehn Jahren einen jährlichen Kapitaltransfer von 100 Milliarden Mark seitens der OECD- Länder in Bewegung setzen soll.

Solchen Vorschlägen ist guter Willen nicht abzustreiten. Sie leben aber auch von einer naiven Interpretation des ersten Marshall-Plans, nach der dieser für die erfolgreiche kapitalistische Rekonstruktion nach dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich gemacht wird und die damit gemachten Erfahrungen gleichsam jederzeit und unter jeden Umständen historisch wiederholbar sein sollen. Vieles spricht gegen eine solche optimistische Interpretation. Zum ersten sind die heutigen Transformationsökonomien nahezu nicht mit den europäischen Nachkriegsökonomien zu vergleichen. Zum zweiten stellen sich die weltwirtschaftlichen Konstellationen der 90er Jahre völlig anders als damals dar. Und zum dritten lassen sich die heutigen Transformationsprozesse nur schwerlich mit den damaligen Rekonstruktionen vergleichen.

Gemessen an der politischen Wirklichkeit sind solche Einschränkungen allerdings eher akademischer Natur: Faktisch fließen den osteuropäischen Ökonomien bereits beträchtliche Summen zu. So haben etwa allein die Länder der G-24 seit Anfang 1990 Finanzzusagen in Höhe von 31 Milliarden US-Dollar getroffen — und das ohne die sehr viel höheren unilateralen Leistungen der Bundesrepublik. Internationaler Währungsfond und Weltbank überwiesen im letzten Jahr weitere sieben Milliarden Dollar; Weitere Finanztransfers aus den unterschiedlichsten Quellen sind zu erwarten. Ist damit ein Quasi-Marshall-Plan schon auf den Weg gebracht?

700 Milliarden Dollar über 20 Jahre

Um die aktuellen Finanzleistungen im Vergleich zum originären Marshall-Plan beurteilen zu können, muß zunächst einmal der Wert der damaligen US-Leistungen — knapp 13 Milliarden Dollar über einen Zeitraum von vier Jahren — auf heutige Werte umgerechnet werden. Der Marshall-Plan betrug damals rund ein Prozent des US-Bruttoinlandsprodukts. Übertragen auf die OECD-Länder würde diese Marge heute Leistungen von jährlich 136 Milliarden Dollar entsprechen. Zweifellos eine beträchtliche Summe, die weit über die bisherigen Transfers hinausgeht. Und dennoch ein kleiner Betrag, wenn die osteuropäischen Ökonomien innerhalb der nächsten zwanzig Jahre an das durchschnittliche westliche Niveau der Arbeitsproduktivität herangeführt werden sollen. Selbst in diesem bescheidenen Falle wären nach vorsichtigen ökonometrischen Schätzungen von Susan Collins und Dani Rodrik vom Washingtoner Institute for International Economics jährliche Kapitalstockinvestitionen in Höhe von rund 700 Milliarden Dollar in den Transformationsökonomien Osteuropas einschließlich der GUS und der UdSSR-Reststaaten notwendig — und zwar über einen Zeitraum von zwanzig Jahren.

Es stellt sich jedoch die Fage, ob und wie diese Transfers finanziert werden können. Vorschläge wie etwa von Dieter Senghaas, sie durch Einsparungen in den Rüstungshaushalten der OECD-Länder zu decken, sind zwar moralisch ehrenwert, entbehren jedoch leider eines zumindest kurz- und mittelfristigen Realitätssinns. Als weitere Möglichkeit bliebe eine Erhöhung der Nettosparquote der OECD-Länder. Um diese Option einzulösen, müßten jedoch die Realzinsen erhöht werden. Weltwirtschaftlich und besonders für die sogenannten Länder der Dritten Welt hätte dieser Finanzierungsweg fatale Auswirkungen. Wie ökonometrische Berechnungen der beiden Autoren zeigen, führt ein einprozentiger Anstieg der Realzinsen in den Industrieländern zu einer jährlichen Erhöhung des Zinsdienstes der fünfzehn höchstverschuldeten Länder von rund 3,3 Milliarden Dollar. Selbst die Länder im Afrika südlich der Sahara, die einen relativ hohen Anteil öffentlicher und somit zinsverbilligter Kredite aufweisen, hätten dadurch noch 360 Millionen Dollar jährlich mehr an Zinsen zu überweisen.

Ähnlich gravierende Folgen zu Lasten der Entwicklungsländer hätte die Finanzierung eines West-Ost- Transfers über eine Umschichtung der Haushaltsmittel: Würden die OECD-Länder den Versuch wagen, insgesamt 90 Milliarden Dollar pro Jahr auf diese Weise umzuschichten, dann dürfte in den Entwicklungsländern das Bruttoinlandsprodukt um durchschnittlich drei Prozent pro Jahr zurückgehen. Wie genau auch immer solche Simulationswerte sind, auf der Hand liegt, daß Forderungen nach einem Marshall-Plan für Osteuropa weltwirtschaftliche Auswirkungen mit sich bringen, die nach einfachsten Kriterien sozialer Gerechtigkeit nicht akzeptiert werden können. Um so weniger im übrigen, wenn der Ruf aus sozialdemokratischer oder grüner Ecke erschallt.

Die Transformationsanstrengungen in Osteuropa machen deutlich, was aufmerksame Zeitgenossen schon seit einigen Jahren festgestellt haben: Sollen den Nicht-OECD- Ländern Entwicklungschancen im globalen System eingeräumt werden, dann erfordert dies einen radikalen wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Kurswechsel in den OECD-Ökonomien. Nur auf diesem Wege können Spielräume für eigenständige und vor allem nicht-imitative Entwicklungsmodelle anderer Ökonomien geschaffen werden. Wirtschaftspolitische Strategien, die diese Voraussetzungen jedes erfolgreichen Transformationsprozesses nicht explizit zu einem Teil ihres Programms machen, sind schon heute zum Scheitern verurteilt.

Der Autor ist Gastprofessor für Politische Ökonomie an der Gesamthochschule Kassel.