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Im Stich gelassen

Am liebsten würden die koreanischen Krawallopfer nach der Gewaltexplosion den Moloch Los Angeles verlassen, doch für die meisten bleibt es beim bloßen Wunsch: die wenigsten haben die Dollar für den Weg zurück  ■ VON ANDREA BÖHM

Zu behaupten, Jerry Yu und Leonard Jackson seien Freunde, wäre zuviel gesagt. Aber sie teilen ein paar grundsätzliche politische Ansichten. Etwa die, daß Rassismus ein Grundübel in ihrer Stadt und die Polizei von Los Angeles bislang nicht gerade hilfreich bei der Bekämpfung dieses Übels gewesen sei. Deshalb haben der US-Koreaner Yu und der Afroamerikaner Jackson in den letzten Monaten gemeinsam für eine Reform des „Los Angeles Police Department“ gekämpft. Für Jerry Yu, den Direktor der „Korean- American Coalition“ (KAC), war es eine Selbstverständlichkeit, Reverend Jackson in seiner „First African Methodist Episcopal Church“ (AME) zu besuchen — bis zum 29. April. An diesem Tag fällte ein Geschworenengericht im benachbarten Landkreis Simi Valley ein Urteil über vier weiße Polizisten, die am 3. März letzten Jahres einen schwarzen Autofahrer namens Rodney King halbtotgeprügelt hatten.

Für den Nachmittag der Urteilsverkündung hatte Jackson alle Gemeindemitglieder, schwarze Lokalpolitiker und Vertreter anderer ethnischer Organisationen in die Kirche am Rande von South Central Los Angeles eingeladen. Der Geistliche befürchtete Ärger, falls die Geschworenen — unter denen sich kein Schwarzer befand — nicht alle angeklagten Polizisten schuldig sprechen würden. „Dann brauchen die Leute einen Ort, wo sie sich ihre Wut von der Seele reden können.“

Am Nachmittag dringt über Fernsehen die Nachricht in den Gemeindesaal: Freispruch für alle vier. Leonard Jackson sitzt minutenlang regungslos auf seinem Stuhl. Und weint. Nicht aus Wut oder Schmerz, sagt er später, sondern „weil ich wußte, was passieren würde“.

Rassenunruhen in LA live und pausenlos via TV

Als Jerry Yu wenig später mit koreanischen Freunden bei der Kirche eintrifft, um im Namen der KAC und der gesamten koreanischen Gemeinde von Los Angeles seine Empörung über das Urteil auszudrücken, haben sich mehrere tausend Schwarze versammelt. Ihre Verbitterung entlädt sich in einer Wut auf alle Nichtschwarzen. Yu muß den Rückzug zu seinem Auto antreten, teils laufend, teils robbend. Ein paar Blocks weiter fallen die ersten Schüsse, und der erste Laden wird geplündert.

Was dann passierte, hat die ganze Nation live vorm Bildschirm erlebt: Jugendliche, die in den ersten Stunden der Revolte besinnungslos auf Nichtschwarze — Weiße, Koreaner und Latinos — einprügeln. Stunden später wiederum sind Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen friedlich vereint und schleppen kistenweise Lebensmittel, Spirituosen, TV-Geräte oder HiFi-Anlagen aus den aufgebrochenen Läden. Manche lachen, den Karton noch auf den Schultern, mit ungläubiger Begeisterung. Nur die Koreaner haben in diesen Stunden etwas zu verteidigen: Ladenbesitzer mit Schnellfeuergewehren und Revolvern schützen ihre Geschäfte, weil die Polizei sich nicht blicken läßt.

Vermutlich 58 Menschen sind bei den Krawallen ums Leben gekommen und über 2.000 verletzt worden; die meisten waren Schwarze und Latinos. Über die Zahl der Festnahmen gehen die Meinungen auseinander. Das Los Angeles Police Department (LAPD) sprach von 18.000, ein Justizsprecher dagegen konnte „höchstens“ 13.000 in den ohnehin überfüllten Untersuchungsgefängnissen ausmachen. Die Diskrepanz läßt sich unter anderem damit erklären, daß viele salvadorenische oder mexikanische Familien aus den Wohnblocks um den Mac Arthur Park seit einigen Wochen Verwandte, Bekannte oder Nachbarn vermissen: Illegale Einwanderer, die im Zusammenhang mit der Revolte festgenommen worden waren, hatte das LAPD der Einwanderungsbehörde (INS) gemeldet und abgeschoben; Flüchtlinge mit legalem Status waren von der Polizei gezwungen worden, ihre Abschiebeanordnung zu unterschreiben.

Knapp 5.000 Geschäfte, davon rund 2.000 in koreanischem Besitz, sind in Brand gesteckt, geplündert oder zertrümmert worden — 20.000 haben dadurch ihre Jobs verloren. Ein verheerender Schlag für eine Stadt, die aufgrund der Rezession in den letzten drei Jahren 100.000 Arbeitsplätze im Produktionsbereich verloren hat. Federal Aid, die Finanzhilfe des Bundes an die Städte, ist in der Amtszeit der Präsidenten Reagan und Bush um 60 Prozent zurückgegangen. In South Central Los Angeles, wo 30 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, ist jede/r Vierte von Sozialhilfe abhängig und gibt es mehr polizeilich erfaßte Gangmitglieder als registrierte Wähler. Deshalb sei die Revolte nicht nur eine Reaktion auf den Fall Rodney King gewesen, sagt Mike Davis, Autor der Los-Angeles- Biographie City of Quartz, sondern ein Aufstand der Schwarzen und Latinos gegen eine unerträgliche politisch-ökonomische Ordnung. Die Wut der Schwarzen richtete sich gegen die vermeintlichen Profiteure dieser Ordnung in der eigenen Nachbarschaft — vor allem gegen die koreanische Community. Das wiederum hat viel mit dem amerikanischen Traum zu tun. Und einem Mädchen namens Latasha Harlins.

Koreaner waren im Einwanderungsland USA lange Zeit unerwünscht. Die Einwanderung war bis Mitte der sechziger Jahre auf minimale Quoten beschränkt, weil Asiaten generell als soziologisch „unverträglich“ galten. 1965 wurden diese Restriktionen durch Präsident Lyndon B. Johnson aufgehoben. Jährlich 20.000, und ab 1976 30.000, durften in das „Land der Schönheit“ kommen — koreanisches Synonym für die USA. Das Eingangstor hieß Kalifornien, der Startplatz Los Angeles. Heute leben 350.000 in Südkalifornien. Die meisten koreanischen Immigranten waren hochqualifiziert — und damit für den Konkurrenzkampf unter den Neuankömmlingen bestens gerüstet. Die Emigration aus der Heimat jedoch bezahlten sie mit sozialem Abstieg. Aus Lehrern wurden Wachmänner, aus Ärzten Kellner, aus Ingenieuren Junk-Food- Verkäufer. Manche arbeiteten in zwei oder drei Jobs gleichzeitig — Arbeitsplätze, die lange Zeit eine Domäne der Schwarzen waren. Den Aus- und Aufstieg aus diesen unterbezahlten Jobs schaffte, wer das Geld für einen Laden zusammenkratzen konnte. Anfang der achtziger Jahre pachteten Koreaner die ersten Läden in den heruntergekommenen Wohnblocks um Olympic Boulevard, Western und Vermont Avenue. Inzwischen gehen 38 Prozent des Umsatzes im Einzelhandel von Los Angeles County auf koreanische Geschäfte zurück, meist Lebensmittel- und Spirituosenläden, Wäschereien oder Nähbetriebe.

Die Emigration kostet den sozialen Abstieg

Das Geheimnis ihres wirtschaftlichen Erfolgs sind Selbstausbeutung, Solidarität — und damit Kapital. Was viele Banken Schwarzen und Latinos verweigern, organisierten sich die Koreaner einfach selbst: Kredite. Oft mehrere Familien bilden einen Sparverein, in den zwischen 500 und 1.000 Dollar pro Jahr eingezahlt wird. Das Los entscheidet, welche Familie die Erträge eines Jahres ausgezahlt bekommt, um ein Geschäft zu eröffnen. Heute ist aus den Blocks um den Olympic Boulevard ein blühender Wirtschaftsbezirk geworden, dessen „Gelbe Seiten“ so dick sind wie das Berliner Telefonbuch. Wer will, wird in diesem ethnischen Kokon von der Taufe bis zur Bestattung versorgt, ohne ein Wort Englisch sprechen zu müssen.

Diese neue Version des amerikanischen Traums ist damit nicht zu Ende. Dem Erfolgsdrehbuch entsprechend haben sich immer mehr Koreaner aus den innerstädtischen Bezirken in die ruhigeren Vororte von Los Angeles abgesetzt — und nehmen dabei nicht nur die Möbel, sondern auch die Steuern mit, die die Stadt so dringend brauchte.

Spätestens hier werden die Beziehungen zwischen US-Koreanern und Afroamerikanern latent explosiv, ohne viel Spielraum für gegenseitige Verständigung. Die Koreaner der ersten Generation sehen ihren Erfolg als Resultat der Opfer, die sie vor allem für ihre Kinder gebracht haben: 16-Stunden-Tage hinter der Ladentheke, damit der Nachwuchs aufs College gehen kann. Für die Afroamerikaner ist der Aufstieg der Koreaner ein Déjà-vu: Wieder eine neue Einwanderergeneration, die sich auf Kosten der schwarzen Ghettos auf den Weg nach oben macht.

An diesem Punkt hören die Gemeinsamkeiten zwischen Jerry Yu und Leonard Jackson auf. „Wir haben keine Fehler gemacht, im Gegenteil. Wir haben die Wirtschaft angekurbelt“, sagt Yu. „Die Koreaner haben an uns Geld verdient und sind damit in die besseren Viertel gezogen“, sagt Jackson. Mitten in die wachsende Wut vieler Schwarzer über das ökonomische Bravourstück der Immigranten aus Korea platzte letztes Jahr der Fall Latasha Harlins. An dessen Ende steht wie bei Rodney King ein Videoband und ein katastrophales Gerichtsurteil.

Am 5. März 1991, zwei Tage, nachdem Rodney King von vier Polizisten verprügelt worden war, betrat Latasha Harlins den Lebensmittelladen von Soon Ja Du in South Los Angeles. Die 15jährige Schwarze nahm sich eine Flasche Orangensaft für 1,78 Dollar aus dem Regal und steckte sie in ihren Rucksack. Je nach ethnischer Zugehörigkeit behaupten die einen, Harlins hätte die Flasche stehlen wollen, die anderen, sie habe das Geld zum Bezahlen bereits in der Hand gehabt. Der Film aus der Überwachungskamera gibt darüber keinen Aufschluß. Er zeigt jedoch, wie das Mädchen an der Kasse von der Koreanerin festgehalten wird. Es entwickelt sich ein Schlagabtausch, bei dem Soon Ja Du fast zu Boden fällt. Harlins dreht sich um und ist auf dem Weg zur Ladentür, als Soon Ja Du den Revolver hervorholt und das Mädchen von hinten erschießt.

Wenig später verurteilte eine weiße Richterin Soon Ja Du wegen Totschlags zu einer Bewährungsstrafe, was in der schwarzen Community einen Aufschrei hervorrief. Wenige Wochen zuvor war gegen einen schwarzen Postboten sechs Monate Haft verhängt worden, weil er einen Hund getötet hatte. Der Hundebesitzer war ein Weißer. „Sechs Monate für einen toten Hund, Bewährung für ein totes schwarzes Mädchen“, sagt Leonard Jackson mit einem bitteren Lachen. „Da stimmt doch etwas mit diesem ganzen System nicht.“ Die Plünderungen koreanischer Geschäfte will er damit nicht entschuldigen, „aber wenn Wut und Frustration einmal explodieren, dann schlägt man gegen die los, die man für die Gegner hält“.

Viele Koreaner würden am liebsten South Los Angeles verlassen und in einer ruhigeren Gegend von vorne anfangen. Irgendwo, sagt einer, von dessen Autowerkstatt nur noch die Reklamesäule übriggeblieben ist, „wo man nicht das Gefühl hat, auf einem Vulkan zu sitzen“. Aber den meisten bleibt nichts anderes übrig, als dort wiederaufzubauen, wo im Moment Obdachlose zwischen verkohlten Plastikklumpen, Glasscherben und ausgebrannten Häuserskeletten nach etwas Brauchbarem rumstochern. Denn von den rund 2.000 zerstörten Läden koreanischer Besitzer oder Pächter waren höchstens 500 versichert. Die anderen sind darauf angewiesen, in den provisorischen Anlaufstellen für „riot victims“ in Koreatown einen sogenannten „Desasterkredit“ zu beantragen.

Gangs üben sich als geläuterte Robin Hoods

Die Koreaner werden es schwerer haben als vorher. Schwarze Nachbarschaftsorganisationen wollen neue Geschäfte in schwarzen Händen wissen und versuchen afroamerikanische Geschäftsleute dazu zu bewegen, in South Central zu investieren. In der Anwohnerschaft „umstrittene“ Geschäfte sollen in Zukunft per öffentlicher Anhörung verhindert werden. Das betrifft vor allem Spirituosenläden, von denen es in allen US-amerikanischen Großstadtghettos viel zu viele gibt. Nur sind sie in South LA oft die Einkommensquelle für asiatische Immigranten. Vor allen für Koreaner.

In die Diskussion um den Wiederaufbau der Stadt haben sich nun auch die Gangs eingeschaltet. Nach der Revolte schlossen die beiden größten Organisationen, die „Bloods“ und die „Crips“, einen Waffenstillstand. Seit Mitte Mai zirkuliert ein detaillierter Haushaltsplan, in dem beide Gangs von neuen Straßenlampen bis zur Polizeireform eine Rundumerneuerung ihrer Wohnviertel vorschlagen, Kostenpunkt: knapp vier Milliarden Dollar. Als Gegenleistung wollen sie die Drogenkönige von Los Angeles dazu bringen, ihr Geld in die schwarze Community zu investieren und in Zukunft sozialverträglichere Einkommensquellen als den Drogenhandel aufzutun. Diese Robin-Hood-Attitüde nahm niemand ernst, bis Ende Mai maskierte Gangmitglieder und der Präsident des Verbandes der koreanischen Kaufleute gemeinsam vor die Kameras traten. Man sei in Verhandlungen über eine mögliche Kooperation getreten. Die „Crips“ und „Bloods“ könnten den Geschäftsleuten Schutz vor Überfällen bieten, wenn diese wiederum Schwarze in ihren Läden einstellten. Beim Präsidenten des Verbandes, David Kim, stand seitdem das Telefon nicht mehr still. Empörte Koreaner riefen an, die sich nicht von „Crips“ und „Bloods“ schützen lassen wollen. Auch der Ku-Klux-Klan ließ dem Koreaner ausrichten, er solle die Finger von den Gangs lassen. Der Klan würde dann die Bewachung der Geschäfte übernehmen.

Fragt man in der afroamerikanischen Community nach einer Einschätzung dieses sonderbaren Dialogs zwischen Koreanern und Schwarzen, findet man eine klare Meinung, aber keinen, der sich namentlich zitieren lassen möchte. „Die Gangs“, sagt einer, „haben den Koreanern gedroht, ihre Geschäfte auseinanderzunehmen, wenn sie sich nicht auf die Verhandlungen einlassen. Das sind Mafiamethoden.“

Es muß nicht nur reine Erpressung gewesen sein, glaubt Jerry Yu, die die koreanischen Geschäftsleute an den Verhandlungstisch gebracht hat, sondern auch pure Verzweiflung. „Wer soll ihnen sonst helfen? Die Polizei? Die hat während der Revolte keinen Finger für uns gerührt.“ So brutal zwischen die Fronten geraten zu sein, ist der eigentliche Schock, der Koreatown durchzieht. Die Männer der ersten Einwanderergeneration, die bislang das Sagen hatten, haben an Ansehen verloren, weil das System, an das sie so ehrfürchtig geglaubt haben, sie während der Revolte im Stich gelassen hat. Zudem waren es die jungen Koreaner wie Jerry Yu, die nach dem 30. April in Fernseh-, Radio- und Zeitungsinterviews für ihre Community sprachen, ganz einfach weil sie besser Englisch können, als ihre Väter. Die „1,5-Generation“ wird sie genannt: in Korea geboren, aber in den USA aufgewachsen. Im Gegensatz zu ihren Eltern haben sie nicht nur mehr Sprachkenntnisse, sondern auch mehr Zeit, sich politisch zu artikulieren. Sie haben das in Los Angeles mit distanzierter Solidarität zu den anderen Minderheiten getan, indem sie den Freispruch im Fall Rodney King als rassistisch verurteilten, und mit scharfer Distanz zum weißen Amerika. „Die Polizei von Los Angeles“, sagt Jerry Yu, „hat in den Tagen der Revolte unseren Anspruch auf Schutz ignoriert und damit unsere Bürgerrechte verletzt.“ Für die Weißen sei es jetzt an der Zeit, sich ihre Politik der letzten 200 Jahre kritisch anzusehen. Die Interessen der Koreaner sieht er auf der anderen Seite. Darin liegt momentan einer der wenigen Hoffnungsschimmer in Los Angeles: Die Signale der jungen Koreaner an die Schwarzen und Latinos zur politischen Koalition.

Die KAC wird demnächst mit der „First African Methodist Episcopal Church“ einen Austausch schwarzer und koreanischer Jugendlicher organisieren. Gegen einen der vier Polizisten im Fall Rodney King ist erneut der Prozeß eröffnet worden. Der Waffenstillstand zwischen den „Crips“ und den „Bloods“ hält — noch. An den Straßenecken von South Central haben ein paar schwarze Jugendliche ihre Verbitterung in Dollar gemünzt und verkaufen T-Shirts mit dem Aufdruck: Los Angeles Police Department: We treat you like a King.

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