Scherbengericht für den ÖTV-Vorstand

■ "Offen, selbstbewußt, handlungsfähig" mit diesem Motto ist die ÖTV zu ihrem 12. Gewerkschaftstag angetreten. Tatsächlich wird gestritten, kritisiert und abgerechnet vor allem mit Chefin...

Scherbengericht für den ÖTV-Vorstand „Offen, selbstbewußt, handlungsfähig“ — mit diesem Motto ist die ÖTV zu ihrem 12. Gewerkschaftstag angetreten. Tatsächlich wird gestritten, kritisiert und abgerechnet — vor allem mit Chefin Wulf-Mathies.

Monika Wulf-Mathies lächelt. Dabei hat sie eigentlich keinen Grund dazu. Denn gerade muß sich die ÖTV- Chefin vom stellvertretenden Vorsitzenden des Landesbezirks Bayern den schlimmsten Vorwurf anhören, den man sich unter Gewerkschaftern machen kann. Sie habe sich zum Ende des Streiks im öffentlichen Dienst der „Argumente der anderen Seite“ — also der Arbeitgeber — bedient, behauptet Michael Wendl. Sonst wäre der Kompromiß von 5,4 Prozent für sie nicht „das Ende der Fahnenstange“ gewesen.

Wendl war in der Nürnberger Frankenhalle einer der Wortführer der innergewerkschaftlichen Kritik an der ÖTV-Spitze, ein langjähriger Intimfeind der Vorsitzenden Wulf- Mathies. Noch vor einem Jahr hatte die ÖTV-Vorsitzende den aufmüpfigen Funktionär rausschmeißen wollen, weil er ihr bei den Tarifverhandlungen Kungelei mit den Arbeitgebern vorgeworfen hatte. Jetzt durfte er — zwischenzeitlich zum stellvertretenden bayrischen Landesvorsitzenden gewählt — mit derselben These vor dem Gewerkschaftstag auftreten, und Frau Wulf-Mathies lächelte, als wenn sie allein damit die Absurdität des Anwurfs beweisen könnte.

Die Stimmung ist diffus auf dem 12. Gewerkschaftstag der ÖTV, so diffus wie die Situation der Gewerkschaften unter den komplizierten Bedingungen des vereinten Deutschlands. Im Mittelpunkt des Kongresses steht der zweiwöchige Arbeitskampf im öffentlichen Dienst Westdeutschlands mit seinem moderaten 5,4 Abschluß und der abschließenden Pleite des ÖTV-Hauptvorstandes bei der Urabstimmung über das erzielte Ergebnis. Weil der ÖTV-Tarifpolitiker Willi Hanss schon im Vorfeld des Gewerkschaftstages das Handtuch geworfen hatte, prasselten alle Vorwürfe auf die Vorsitzende Monika Wulf-Mathies herab: Sie habe den Streik zu schnell beendet, den Mitgliederwillen mißachtet, sei verantwortlich für das politische Debakel am Ende des Arbeitskampfes.

Wulf-Mathies hatte am Sonnabend die übliche Form des Rechenschaftsberichts verlassen und sich ausschließlich auf die aktuellen Konflikte konzentriert. Sie räumte ein, Fehler gemacht zu haben — insbesondere bei der Beendigung des Arbeitskampfes und bei der Vermittlung des Ergebnisses an die Basis. Trotzdem blieb sie beharrlich: Sie sehe „auch heute keine Alternative zur damaligen Entscheidung“. Es sei ein „historische Erfolg der ÖTV“ gewesen, die von den Arbeitgebern angestrebte Wende in der Tarifpolitik stellvertretend für alle anderen Branchen abgewehrt zu haben. Auch durch eine Verlängerung des Streiks hätte kein besseres Ergebnis erzielt werden können. Angesichts „zunehmender Verteilungskämpfe in der Gesellschaft“ sei es die Aufgabe der Gewerkschaften, „die Realeinkommen zu sichern“ und eine weitere Verschiebung von Einkommensanteilen zugunsten der Kapitalseite zu verhindern.

Mit dieser Aussage hat Wulf-Mathies Abschied von der traditionellen gewerkschaftlichen Forderung nach Umverteilung der Einkommen zugunsten der Arbeitnehmer genommen. Die Besonderheit der öffentlichen Haushalte, die sich aus Steuergeldern speisen, müsse bei der Begründung tarifpolitischer Forderungen bedacht werden. Wulf-Mathies verteidigte auch den Beschluß des geschäftsführenden Hauptvorstandes, sich über das Votum der Urabstimmung hinwegzusetzen. Die Führung sei gewählt, um im Konfliktfall auch mal „unbequeme Entscheidungen“ zu treffen. Aber es müsse in Zukunft eine bessere Verbindung zwischen „repräsentativer und unmittelbarer Demokratie“ in der ÖTV geben. Nur verhalten kritisierte sie die Illoyalität bestimmter Bereiche im hauptamtlichen Apparat, die zu dem Desaster beigetragen haben.

Die Delegierten gaben es der Vorsitzenden in der anschließenden Diskussion mit voller Kraft zurück. Nur wenige nachdenkliche Beiträge mischten sich in den Chor jener Kritiker, die der ÖTV-Spitze undemokratischen Zentralismus und Funktionärsarroganz vorwarfen. „Volkswirtschaftlich abstrus“ sei die Vorstellung Wendls, man könne sich angesichts der gegenwärtigen Situation in Deutschland durch eine expansive Lohnpolitik „mit eigener Kraft aus dem Sumpf ziehen“, meinte der Erfurter Kreisvorsitzende Hartwick Oswaldt. Er ist Westgewerkschafter, der vor zwei Jahren in den Osten gegangen ist.

Gegenüber der taz wurde er deutlicher: Der „Prozentradikalismus“ jener Kritiker, die über das angeblich zu niedrige Streikergebnis schimpften, laufe letztlich auf einen „blinden Westegoismus“ hinaus. Dieser nehme die veränderte Situation in Deutschland nicht zur Kenntnis, komme aber mit allerlei traditionellen und populistischen Klassenkampfparolen daher.

Daß sich etwas ändern muß in der ÖTV, wird nicht einmal von der Vorsitzenden Wulf-Mathies bestritten. Aber wie diese Veränderungen aussehen sollen, darüber gibt es völlig gegensätzliche Vorstellungen. So fordern einige Regionalfürsten der ÖTV ein Ende der zentralen Tarifverhandlungen. Ob sie damit eine Demokratisierung im Auge haben oder nur ihren eigenen Machtzuwachs, steht in den Sternen. Als eigentliches Machtzentrum des ÖTV- Apparats blieben sie auffällig unauffällig in Deckung. Und während die Vorsitzende oben auf dem Podium aufmerksam und manchmal milde lächelnd dem Scherbengericht folgte, das die Mehrzahl der RednerInnen veranstaltete, wucherten die Spekulationen, was all dies für die am heutigen Montag stattfindenden Wahlen zum geschäftsführenden Hauptvorstand bedeuten könnte. Martin Kempe, Nürnberg