Wulf-Mathies will nicht Buhfrau sein

Grundsatzrede der Gewerkschaftsvorsitzenden auf dem Nürnberger ÖTV-Kongreß/ Kritiker besänftigt/ Sonderkongreß in zwei Jahren soll die strittigen Fragen lösen  ■ Aus Nürnberg Martin Kempe

Zwei Tage lang wogte die Debatte auf dem Gewerkschaftstag der ÖTV hin und her. Über 120 Rednerinnen und Redner stritten über das verpatzte Ende der Tarifrunde 92, über Bürokratismus und Selbstherrlichkeit der Führung, über die offensichtlichen Kommunikationsstörungen zwischen Apparat und Mitgliedern und innerhalb des Apparats der ÖTV selbst.

Am Sonntag vormittag der große Auftritt der innergewerkschaftlichen Kritiker, die eine unerbittliche Abrechnung vor allem mit der Gewerkschaftsvorsitzenden Monika Wulf-Mathies suchten. Am Sonntag nachmittag und Montag morgen dann Entlastung für die Frau an der Spitze: schließlich habe sie nicht allein die blamable Urabstimmung zu verantworten, bei der die Mitglieder den ausgehandelten Tarifkompromiß mehrheitlich durchfallen ließen.

So hätten alle Bezirksfürsten, auch jene, die sich hinter den Kulissen als heftigste Kritiker der Vorsitzenden aufführten, das Ergebnis und den Abbruch des Streiks mitgetragen.

So konnte die im Kreuzfeuer stehende ÖTV-Vorsitzende mit dem Verlauf der Debatte schließlich doch noch zufrieden sein und in ihrer Antwort das Hohelied der demokratischen Auseinandersetzung und innergewerkschaftlichen Demokratie singen. Sie kündigte an, sich für „Offenheit und Liberalität“ in der ÖTV einzusetzen, und warb für „Ehrlichkeit“ in der Auseinandersetzung. Dazu gehöre auch das für die westdeutschen Mitglieder unbequeme Eingeständnis: angesichts der für den Osten benötigten gigantischen Summen wird „im Westen nicht alles so weiterwachsen können wie bisher“. Es genüge nicht, „Maximalforderungen zur ersten Gewerkschaftspflicht“ zu machen, ohne die Möglichkeiten der Durchsetzung zu bedenken. Gemeint waren damit jene Bezirke, aus denen es vor der Tarifauseinandersetzung horrende Forderungen ohne jede Aussicht auf Durchsetzung gegeben hatte.

Möglicherweise wird die Spanne zwischen Forderung und möglichem Ergebnis bei zukünftigen Tarifrunden kleiner als bisher ausfallen und damit für ein Mehr an Realismus in der innergewerkschaftlichen Diskussion sorgen. Tarifpolitik, so Wulf-Mathies, könne nicht aus den ökonomischen Bedingungen aussteigen und die politischen Rahmenbedingungen nicht ändern. Dies sei kein „vorauseilender Verzicht“, sondern Ehrlichkeit, meinte Wulf- Mathies, und fügte wie eine versteckte Drohung hinzu: wenn die Mitglieder dem nicht folgten, „müssen wir Konsequenzen ziehen“.

Für ihre Wahl am späten Montag nachmittag, so die einhellige Meinung unter Kongreßbeobachtern, hatte die ÖTV-Vorsitzende nun nichts mehr zu fürchten.

Aber bei den anderen Vorstandsposten könnte es noch spannend werden. Ob die zwei nominierten Ostfrauen wirklich gewählt werden, galt als unsicher. Und für die übrigen sechs zu vergebenden Plätze gab es bis zu Beginn des Wahlakts sieben KandidatInnen. Über weitere Kandidaturen wurde gemunkelt. Die Ergebnisse der Wahlen lagen bei Redaktionsschluß noch nicht vor.

Doch bevor die rund 1.000 delegierten Frauen und Männer ihre Stimmkarten in die Urne werfen konnten, mußten sie noch darüber entscheiden, ob die ÖTV ihre Probleme zum Thema eines Sonderkongresses in zwei Jahren machen soll. Dabei soll über die zukünftige Tarifpolitik, die Organisations- und Satzungsreform der ÖTV debattiert und entscheiden werden.

Obwohl einige der Nürnberger Delegierten nur eine Verschiebung und Verschleppung der drängenden Probleme der ÖTV befürchteten, entschied sich eine Mehrheit der Delegierten dafür.