Zweimal täglich: Flut auf Wangerooge

■ 2 x täglich spült Ferienlaune über die Insel, 2 x weicht das Meer zurück

Sie kommt immer nur bei Flut. Aber bei Flut kommt sie in großer Welle: ein Schiffsbauch voll feriengelaunter InselurlauberInnen wird beim Anleger in die Schmalspurbahn umgeschlagen, zockelt über Wattwiesen, ergießt sich aus der Bahnhofsflügeltür, spült die Dorfstraße hoch bis zum Deich und erbricht sich schließlich über den weißen Strand. Nur wenige tröpfeln weiter, tunken den Zeh ins große Naß des offenen Meeres. Zweimal täglich, kurz nach Hochwasser, ist landunter auf Wangerooges Boulevard. Schlangen bilden sich am Kiosk des Verkehrsvereins, Handkarren stecken im Stau, Fahrräder klingen erfolglos um Durchfahrt. Zweimal am Tag schwitzen die Eisverkäufer, zweimal kreiseln die Postkartenständer. Doch kaum ist die Woge vorbeigerollt, wirft das Inselleben wieder friedliche Falten. Brandung tobt derweil am Strand. Sandburgen werden befestigt, Strandkörbe zur Sonne ausgerichtet. Kinder baggern sich durch nassen Sand, Väter machens vor. Weißgelockte Jubilare lassen braune Waden blitzen, Babies futtern Sand. Doch wie die Gischt der ablaufenden Flut zerstäuben die Massen gleich hinter dem Ende der Promenade. Zurück bleiben barfüßige Strandläufer, den Blick fest an Muscheln geheftet, die Spuren bald vom Meer wieder abgeleckt. Lachmöven verpotten einsame Surfer, Paare dösen in Dünen.

Bei Ebbe dehnt sich die Insel bis ans Festland, per Schiff nicht mehr zu erreichen, dafür zu Fuß oder im ewig brummenden Flugzeug. Das Meer gibt Sportplätze frei für Volleyball- und Frisbee- Turniere und präsentiert die sandig geringelte Notddurft von Millionen Sandwürmern. Es riecht nach faulem Fisch, frischem Tang und Sonnenöl. Der Wind wirft Salzkrusten auf die ausgetrocknete Haut. Stumm wachsen Leuchttürme aus dem Watt, am Horizont ziehen Schiffe. Die Insel steht still, aber nur, um ihre Richtung zu ändern. Der Zeitpunkt ihrer größten Ausdehnung ist immer der Auftakt für den nächsten Pulsschlag des Meeres. Von beiden Seiten züngelt es heran, nagt an Sandbänken, sprudelt in Priele. Eine erste Welle schlägt aufs Trockene, drückt Luft aus dem zerwühlten Sand. Die Badewächter beziehen Posten - Wasser frei für zwei Stunden täglich. Der erste Spritzer rinnt kalt den Rücken runter, doch einmal eingetaucht und losgekrault zeigt es sich drin wärmer als draußen. Eine zerfledderte Plastiktüte segelt auf der Welle, aufgewühlter Sand drückt sie ein.

Sie kommen immer nur bei Flut, aber sie gehen auch wieder bei Flut. Während das Wasser den Strand berennt, treibt ein Schwung Inselurlauber Richtung Bahnhof. Ein letztes Mal schwappen sie vom Souvenier-Stand zum Kurkonzert, vom Ponyhof zum Fahrradverleih, dann steht die Insel wieder still: bei Hochwasser sind die einen weg und die anderen noch nicht da. Aber gleich werden sie kommen und den Boulevard überspülen, und die Wellen werden zurückweichen, um neuen Anlauf zu nehmen. Zweimal am Tag ist Flut auf Wangerooge. Dirk Asendorpf