„Alles läuft nach unseren Befehlen“

Verbissen kämpft Marokkos König Hassan II. gegen einen Frieden im Konflikt um die Westsahara  ■ VON THOMAS DREGER

Exakt 349 UN-Blauhelme aus 25 Nationen kämpfen in der Westsahara gegen Hitze, Diarrhö und Langeweile. Während sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Missionen der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien, Kambodscha oder dem östlichen Teil des Nahen Ostens richtet, droht der UN- Friedensplan für die seit 1975 marokkanisch besetzte Westsahara buchstäblich im Sande zu verlaufen.

Der Zeitplan der UN-Friedensinitiative ist längst überschritten. Schon im Januar hätte ein Referendum über die Zukunft des rohstoffreichen Wüstenstücks, das etwa so groß ist wie die alte Bundesrepublik, stattfinden sollen. Die im letzten Herbst in die Westsahara entsandten Blauhelme der „Minurso“ getauften UN-Mission sollten seit dem Frühjahr wieder zu Hause sein. Minurso- Chef General Armand Roy beendete denn auch am 24. April seine Tätigkeit und reiste ab. Seitdem werden die verbliebenen Soldaten von einer Interimsführung kommandiert.

Sang und klanglos verstrich am 31. Mai eine von UN-Generalsekretär Butros Ghali Ende Februar gesetzte Frist. Bis zu diesem Stichtag sollten die marokkanische Regierung und die Polisario Hindernisse für das Referendum beseitigen. Andernfalls würde die Weltorganisation „andere Wege einschlagen“, drohte Ghali diffus. Obwohl sich im Verlauf der drei Monate nichts Entscheidendes verändert hatte, schlug er am 29. Mai dem UN-Sicherheitsrat vor, die UN-Mission in der Westsahara bis Ende August dieses Jahres zu verlängern. Die Positionen der marokkanischen Führung und der Polisario seien zwar „sehr weit“ voneinander entfernt, doch es sei „ermutigend zu sehen, daß beide Seiten weiterhin übereinstimmend entschlossen sind, den Plan für eine gerechte und dauerhafte Lösung des Westsaharakonflikts zu achten“.

Blitzbesuche und geplatzte Konferenzen

In den vorangegangenen drei Monaten registrierten UN-Soldaten insgesamt 102 Verletzungen des Waffenstillstandsabkommens. 97 Mal waren marokkanische Militärs verantwortlich, in fünf Fällen Einheiten der Polisario. Zu Schußwechseln sei es nicht gekommen, wohl aber hätten Minen Opfer gefordert, heißt es in Ghalis Bericht. Die Mitglieder des UN-Sicherheitsrat stimmten Ghalis Wunsch auf Verlängerung der Minurso-Mission zu, legten aber Wert darauf, daß der UN-Generalsekretär „zum frühest möglichen Termin einen weiteren Bericht über Fortschritte bei der Durchführung des Plans“ vorlegen möge.

Derart zur Eile gemahnt, versuchte der UN-Generalsekratär, beide Parteien an einen Tisch zu bekommen. Sein Sonderbeauftragter, Yakub Khan, lud die Vertreter Marokkos und der Polisario für den 10. Juni nach Wien ein. Am Konferenztisch fehlten aber die Marokkaner. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, vorher abzusagen. Trotz des Affronts landete Yakub Khan drei Tage später in der marokkanischen Hauptstadt Rabat und wenige Tage später im Polisario-Hauptquartier im südalgerischen Tindouf. Die diplomatischen Bemühungen waren vergebens. Zu einem weiteren UN- Termin, diesmal in New York, erschienen am vergangenen Donnerstag wiederum nur die Sahrauis. UNO-Sprecherin Louise La Heurte bezeichnete gegenüber der taz den Friedensplan als „blockiert“.

16 Jahre Krieg abseits der Weltöffentlichkeit

Marokkos König Hassan II. spielt auf Zeit. Er will im Oktober Parlamentswahlen in Marokko und in der Westsahara abhalten. Vor einer Woche leitete sein Innenminister Driss Basri die Wahlvorbereitungen ein. In Layoune, der „Hauptstadt“ der Westsahara, forderte er die „marokkanischen Bürger“ auf, sich in die Wählerlisten einzutragen.

Die internationale Rechtslage zur Westsahara ist eindeutig. Am 16. Oktober 1975 erklärte der internationale Gerichtshof in Den Haag, weder Marokko noch Mauretanien hätten historisch begründbare Gebietsansprüche auf die damals spanische Kolonie. Am 6. November des gleichen Jahres ließ Hassan II. 350.000 Marokkaner und Marokkanerinnen die sahrauisch-marokkanische Grenze überschreiten. Die Teilnehmer des „Grünen Marsches“ rekrutierten sich neben Regierungsbeamten zu großen Teilen aus Bewohnern der Slums der marokkanischen Großstädte, die sich ihren patriotischen Einsatz mit einer Dose Ölsardinen und etwas Weißbrot vergüten ließen.

1976 rief die Frente Polisario im algerischen Exil die „Demokratische arabische Republik Sahara“ (DARS) aus. Der Staat mit vorläufigem Regierungssitz in der südalgerischen Wüste wurde bis heute von 74 Staaten anerkannt und hat einen Sitz bei der Organisation für afrikanische Einheit (OAU). Die Polisario führte Krieg gegen Mauretanien und Marokko. Mauretanien revidierte angesichts der militärischen Erfolge der Polisario 1979 seine Ansprüche, Marokko aber eroberte bis 1989 rund 80 Prozent der Westsahara. Vier Millionen US-Dollar täglich soll sich das Königgreich den Krieg gegen die Polisario kosten haben lassen.

Am 6. September vergangenen Jahres endete der international kaum beachtete Krieg mit einem Waffenstillstand. In seiner Resolution 690 hatte der UN-Sicherheitsrat am 29. April 1991 einem Friedensplan des damaligen UN-Generalsekretärs Javier Perez de Cuellar zugestimmt. Die UN-Generalversammlung bewilligte die 200 Millionen US-Dollar für den Frieden; sowohl die Polisario als auch der marokkanische König erklärten ihre Zustimmung.

Zur Sicherung der Waffenruhe und des Referendums sollten 1.700 Blauhelme, 900 Zivilbeauftragte der UNO sowie 300 UN-Polizisten sorgen. Doch die marokkanischen Behörden ermöglichten bis heute nur etwas mehr als zehn Prozent des UN- Personals die Einreise. Ausrüstung wie Zelte, Fahrzeuge und Funkgeräte blieben über Monate wegen angeblicher Zollvorschriften im Hafen von Agadir oder auf den Kanarischen Inseln blockiert. Auch 15 Bundesgrenzschützer, die noch vor den deutschen Blauhelmen in Kambodscha als Polizisten in der Westsahara aktiv werden sollten, sitzen seit Monaten auf ihren Koffern. Ob und wann die BGSler noch in die Wüste geschickt werden, ist selbst dem Bundesinnenministerium unklar: „Da existieren noch Probleme zwischen Marokko und der UNO.“

Den Blauhelmen, die es bis zu ihrem Einsatzort geschafft haben, sind die Hände gebunden. Über dem UN- Hauptquartier in Layoune weht weder eine UN-Flagge noch tragen die Einsatzfahrzeuge das Signet der Weltorganisation. Der omnipräsente marokkanische Geheimdienst verhindert Kontakte zwischen UN-Personal und Einheimischen. Wann immer sich ein UN-Fahrzeug in Bewegung setzt, hängt sich ein marokkanischer Pkw an seine Stoßstange. Alle UN-Nachrichtenverbindungen werden von Marokkanern kontrolliert.

Marokkos Geheimdienst spitzelt omnipräsent

Die marokkanische Führung macht keine Anstalten, ihre nach eigenen Angaben 165.000 in der Westsahara stationierten Soldaten, wie im Friedensplan vorgesehen, auf 65.000 zu reduzieren. Bei den marokkanischen Militärstützpunkten gilt für die Minurso-Soldaten: „Zutritt verboten.“ „Wir können um die marokkanischen Stellungen herumfahren und versuchen uns vorzustellen, was drinnen passiert“, erklärte ein britischer UN-Soldat gegenüber der 'Daily Mail‘ seinen Aktionsspielraum.

Unter dem Titel Westsahara: Der Referendumsprozeß in Gefahr veröffentlichte im Februar der außenpolitische Ausschuß des US-Senats den Bericht einer Delegation, die im Januar Minurso-Stützpunkte besuchte. Neben mangelnder politischer Unterstützung der UN-Truppen durch die UN-Zentrale in New York kritisierten die US-Parlamentarier Marokkos Unwillen, mit der UNO zusammenzuarbeiten. Die marokkanischen Truppen widersetzten sich den Minurso-Einheiten und hätten sogar gedroht, auf die UN-Soldaten zu schießen.

Wenn in der Westsahara überhaupt eine Volksabstimmung stattfinden werde, dann nur unter marokkanischer Fahne, erklärte Hassan II. schon am 6. November vergangenen Jahres. In einer Ansprache aus Anlaß des 16. Jahrestages des „Grünen Marsches“ sagte er seinem Volk: „Die Verwaltung des Territoriums obliegt uns. Wir haben die Souveränität. Alles läuft nach unseren Befehlen.“ In der königlichen Terminologie ist ohnehin nicht von einem Referendum, sondern von einer „Bestätigungsabstimmung“ die Rede, die die „Marokkanität der Westsahara“ international absegnen soll.

„Wünschen Sie die Unabhängigkeit oder die Integration nach Marokko?“ Auf diese Frage sollten die Abstimmungsberechtigten laut UN- Plan in dem Referendum Antwort geben. Der Plan sieht vor, daß alle Sahrauis abstimmungsberechtigt sind, die im Zensus von 1974 von den spanischen Behörden registriert und 18 Jahre oder älter sind. Die spanischen Kolonialbehörden hatten damals insgesamt 73.497 Sahrauis gezählt. Eine „Identifizierungskommission“ der UNO soll vor dem Referendum zudem Anträge von Personen prüfen, die von den Spaniern nicht erfaßt wurden. Nach Angaben von Sahrauis entzog sich eine unbestimmte Zahl von Bewohnern der Westsahara dem Zensus, weil sie fürchteten, von der Kolonialmacht besteuert oder ihre Kinder der Schulpflicht unterworfen zu werden.

„Falsche“ Sahauris für das Referendum

Während Polisario-Generalsekretär Mohammed Abd el-Aziz einräumt, daß der spanische Zensus eine Fehlerquote „zwischen einem und zehn Prozent“ beinhalten könnte, will die marokkanischen Führung eine Erweiterung der Abstimmungsberechtigten um bis zu 170.000 Personen durchsetzen. Nach marokkanischer Darstellung sollen während der spanischen Kolonialherrschaft massenhaft Bewohner der Westsahara in das nördliche Königreich abgewandert sein. Zehntausende dieser angeblichen Sahrauis haben die marokkanischen Behörden in die Westsahara gebracht, damit sie dort für einen Anschluß des Gebiets an Marokko votieren. In streng abgeschirmten „Camps der Einheit“ warten sie auf das Referendum. Nach Ansicht der meisten Beobachter handelt es sich bei diesen „Sahrauis“ um Marokkaner, die das Referendum zu Gunsten der Königs ausgehen lassen sollen.

Angesichts der von Marokko präsentierten „Sahrauis“ warf der von Perez de Cuellar eingesetzte UN- Sonderbeauftragte für die Westsahara, der Schweizer Diplomat Johannes Manz, Ende 1991 das Handtuch. Nachfolger wurde im März der ehemalig pakistanische Außenminister Sahabzada Yakub Khan.

Die Zeit in der Westsahara arbeitet für Marokko. Seit 1988 gibt es Hinweise auf Streitigkeiten innerhalb der Polisario, die von der marokkanischen und marokkofreundlichen Presse als Anfang vom Ende der Befreiungsbewegung gefeiert wurden. Einer der Gründe für die Konflikte war ein übermächtig gewordener militärischer Sicherheitsdienst der Polisario, der unter dem Vorwand, marokkanische Spione zu verfolgen, andersdenkende Sahrauis einsperrte, folterte und einige tötete. Das Bekanntwerden dieser Praktiken — die in keinem Verhältnis zu den systematischen Menschenrechtsverletzungen durch marokkanische Behörden stehen — kratzte international am Bild der kleinen Befreiungsorganisation. In den Lagern von Tindouf kam es zu Protestkundgebungen gegen die Polisario-Führung. Eine unbekannte Zahl von Sahrauis setzte sich im Zuge dieser Auseinandersetzungen nach Marokko ab. Während Marokko auf massive Auflösungserscheinungen beim Gegner verweist, spricht die Polisario von „wenigen Einzelpersonen“, die von der marokkanischen Führung „gekauft“ worden seien. Prominentester Überläufer war 1989 der ehemalige Chef des Polisario-Sicherheitsdienstes, Omar Hadrami, verantwortlich für die Menschenrechtsverletzungen bei Tindouf.

Seit Januar muß die Polisario zudem um die Unterstützung Algeriens fürchten, ihres bisher wichtigsten Partners. Damals verhinderten Teile des algerischen Militärs und der Nomenklatura den zu erwartenden Wahlsieg der Islamischen Heilsfront (FIS), indem sie den zweiten Gang der Parlamentswahlen einfach aussetzten. Der seitdem regierende „Hohe Staatsrat“ holte sich seinen Vorsitzenden ausgerechnet aus Rabat. Nach 28 Jahren politischen Exils landete Mohammed Boudiaf am 16. Januar in einem Jet des marokkanischen Königs in Algier. Der ehemalige Befreiungskämpfer war dank seiner jahrelangen Abwesenheit über Vorwürfe der Korrumpierbarkeit erhaben und schien den Putschisten daher als geeigneter Kandidat, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Machtelite wiederzuerlangen.

Algeriens Loyalität zu Sahauris schwankt

In mehreren Zeitungsinterviews distanzierte sich Boudiaf seitdem deutlich von der Polisario. In Rabat bezeichnete er Marokko und Algerien als „Partner bei dem Bau eines Grand Maghreb“. Traditionelle Polisario- Freunde unter den Mächtigen Algeriens hinderten Boudiaf bislang, die Sahrauis endgültig fallen zu lassen. Hinter den algerisch-marokkanischen Kulissen wird emsig über das Schicksal der Befreiungsorganisation verhandelt. Am 20. Mai reiste Boudiaf zu einer Privataudienz über „bilaterale Angelegenheiten“ zu Hassan II. Auch wenn die Polisario- Führung beteuert, die algerische Westsahara-Politik habe sich nach dem Putsch nicht geändert, ist fraglich, wie lange die Sahrauis ihren Exilstaat bei Tindouf noch aufrechterhalten kann. Schon vor dem Putsch mehrten sich die Anzeichen, daß die algerische Führung florierenden Handelsbeziehungen innerhalb des Maghreb gegenüber der Befreiungsbewegung den Vorrang geben wollte. 1989 gründeten Mauretanien, Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen den Wirtschaftsbund „Maghrebunion“. Für die DARS war darin kein Platz. Das mit 25 Milliarden US-Dollar verschuldete Algerien ist heute um so mehr auf die Kooperation Marokkos angewiesen. In Algier wird mit europäischer Hilfe eine Erdgaspipeline zur Meerenge von Gibraltar geplant. Sie soll quer durch Marokko verlaufen und später bis in die Bundesrepublik reichen.

Polisario-Generalsekretär Abd el-Aziz warnte am 29. Mai vor einer „Rückkehr zum Krieg“, falls der UN-Friedensplan scheitern sollte. Einen solchen Krieg könnten die Sahrauis in der aktuellen Konstellation nicht gewinnen. Der Polisario bleibt wenig mehr als der Appell an die Moral der internationalen Gemeinschaft. „Die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen ist zur Zeit in der Westsahara vor eine harte Probe gestellt“, heißt es in einer Erklärung der Bonner Polisario-Dependance. „Die wirkliche Stabilität des Maghreb ist nur durch Demokratie, Achtung der Menschenrechte und freies Unternehmertum zu erreichen.“

Ob sich der UN-Sicherheitsrat angesichts solcher Appelle zu einer konsequenten Durchsetzung des Friedensplans, möglicherweise durch Sanktionen, durchringen wird, bleibt fraglich. Als einziges arabisches Land besetzt Marokko bis Ende des Jahres im Sicherheitsrat einen Sitz der nichtständigen Mitglieder. Frankreich und die USA gelten als engste Verbündete des marokkanischen Königs. Dieser polierte sein Ansehen nach der irakischen Invasion Kuwaits durch die symbolische Entsendung von 1.500 marokkanischen Soldaten an den Golf auf.

Die Freunde des Königs müssen zudem befürchten, daß Hassan II. mit der Westsahara auch den marokkanischen Thron verlieren könnte. Seit 1975 hat der Monarch seine Bevölkerung auf die „Marokkanität“ der „südlichen Provinz“ eingeschworen. Durch die Aufgabe dieses nationalen Konsenses würde der König ein erhebliches Maß an Glaubwürdigkeit einbüßen. Zudem hält Hassan II. seine in der Westsahara beschäftigten Soldaten vom eigenen Palast fern, was die Gefahr eines Putsches reduziert. Die Furcht vor einer Destabilisierung des eng an die Nato gekoppelten Marokko und damit möglichen „algerischen Verhältnissen“ am Eingang des Mittelmeers könnte bei einigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats den Wunsch reifen lassen, die Resolution 690 in immer tiefere Ablagen wandern zu lassen. Hinzu kommt die ungewisse finanzielle Zukunft des Minurso-Einsatzes. Ursprünglich waren die Gelder der chronisch am Rand der Pleite stehenden UNO für eine Mission bis zum Frühjahr bemessen. Auch das dürften die Mitglieder des Sicherheitsrats vor Augen gehabt haben, als sie Butros Ghali Anfang Juni zur Eile mahnten.

Literaturtip: Karl Rössel: Wind, Sand und (Mercedes-)Sterne · Westsahara: Der vergessene Kampf für die Freiheit , 1991, 416 Seiten, Horlemann-Verlag, 29,80 DM. Der Autor sympathisiert mit der Polisario, was ihm aber nicht den Blick auf Kritikwürdiges versperrt.