Die Mannschaft ohne Hasenpfote

EM-Finale: Dänemark — Deutschland 2:0/ Stefan Reuter blieb seiner Rolle des EM-Unglücksraben treu, vergab die beste Chance des Endspieles und ebnete Dänemark den Weg zur Europameisterschaft  ■ Aus Göteborg Matti Lieske

Die hervorstechendste Eigenschaft des Glückes ist, daß es seine Schoßkinder dann und wann verläßt. Selbst ein Gustav Gans wird gelegentlich vom Pech verfolgt, sofern er seine Hasenpfote verliert, und offensichtlich ist nicht einmal die deutsche Nationalmannschaft gegen plötzliche Einbrüche von Mißgeschick gefeit.

Normalerweise ist „Glück“ ein „verbum non gratum“ im deutschen Fußball-Lager. Wenn es irgendwo fällt, runzeln sich empörte Stirnen, und der Tabuverletzer zieht sich mißbilligende Blicke zu. Ist zufällig Bundestrainer Berti Vogts in der Nähe, hebt er sofort zu einem längeren Vortrag über die „Mentalität der Deutschen“ an, die auf Arbeit gegründet sei, und darüber, daß das Glück bekanntlich nur dem Tüchtigen lache, dem Deutschen also. Und bleibt dann doch ein kleines Fitzelchen Unwägbarkeit übrig, ein Freistoßtörchen in letzter Minute etwa oder ein heilspendender Sieg der Schotten gegen die GUS, dann führt das der christliche Berti flugs auf den Eingriff einer höheren Macht zurück, erspäht einen Wink Gottes und findet das in hohem Maße gerecht.

Auch nach dem verlorenen EM- Finale gegen Dänemark blieb sich der Bundestrainer, das ist ihm hoch anzurechnen, treu. Nur einmal verirrte sich die Formulierung: „Die Dänen hatten das Glück der Euphorie“ in sein Vokabular, ansonsten vermied er jede Zuflucht zum in übler Weise mitspielenden Zufall: „Verdienter Sieg“, „Chancen nicht genutzt“, „nicht klug gespielt“, „Schicksal lasse ich nicht gelten“, „das Fehlen von Matthäus und Völler ist mir als Entschuldigung zu billig“, lauteten seine Urteile.

Einer, der seine Hasenpfote bei dieser Europameisterschaft ganz gewiß zu Hause gelassen hatte, war Stefan Reuter. Im ersten Spiel gegen die GUS katastrophal, im zweiten nach wenigen Minuten von einem Schottenschädel zu Boden gestreckt, wurde er auch nach dem Finale mehr oder weniger offen zum Matchlooser erklärt. Seine Tormöglichkeit in der Anfangsphase — der besten Zeit des Weltmeisters — als er nach einem klugen Sammer-Paß allein auf Torwart Schmeichel zulief, wurde allgemein als Schlüsselszene der gesamten Partie betrachtet. „Diese Chance hätten wir eiskalt nützen müssen, dann wäre das Spiel anders gelaufen“, war sich Thomas Häßler sicher. Reuter versuchte den Ball, eigentlich recht geschickt, über Schmeichel hinwegzulupfen, der aber bekam die Fingerspitzen dran und lenkte ihn zur Ecke. Kurze Zeit später drehte er einen Schuß des sehr gutaufgelegten Klinsmann um den Pfosten, aber da war das dänische Führungstor schon gefallen.

In der ersten Viertelstunde hatten die Dänen verhalten und ziemlich rückwärtsgewandt gespielt, um den Deutschen ihren Schwung zu rauben, dann begannen sie jedoch, kesser zu werden. In der 19. Minute war Brehme auf der linken Seite zu zauderlich, Vilfort stocherte ihm den Ball weg, Povlsen legte zu John Jensen, und dem gelang von der Strafraumgrenze der vermutlich beste Schuß seines Lebens hoch ins rechte Eck. „Durch dieses Tor haben die Dänen einen Sprung von 60 auf 150 Prozent gemacht“, errechnete Matthias Sammer, der in der Halbzeit Thomas Doll Platz machen mußte.

Obwohl die Kräfte der Dänen nach der Pause sichtlich nachließen und sie immer mehr unter Druck gerieten, vermochten die Deutschen trotz großer Feldüberlegenheit weder durch hohes noch durch flaches Spiel die Abwehr um den souveränen Ausputzer Lars Olsen zu erschüttern. Dann kamen die großen fünf Minuten von Jürgen Klinsmann und Kim Vilfort, und auch aus diesem Duell ging Dänemark als Punktsieger hervor.

Zuerst inszenierte Laudrup auf der linken Seite einen prächtigen Konter, während rechts mit den schweren Schritten eines rheumatischen Elefanten der todmüde Vilfort angestapft kam. Laudrup legte ihm den Ball ideal vor — Vilfort stolperte ihn am langen Pfosten vorbei. Im Gegenzug spielte sich Klinsmann im Strafraum durch und zog eine genaue Flanke auf den Kopf von Riedle — im letzten Augenblick war die Schuhspitze Kent Nielsens dazwischen. Nach der folgenden Ecke kam Klinsmann selbst frei zum Köpfen — Schmeichel konnte die Lederkugel gerade noch über die Latte lenken. Dann war erneut Vilfort dran, der seinen Körper mit scheinbar letzter Kraft ein weiteres Mal nach vorne wuchtete, aber nicht mehr die Power hatte, einen genauen Paß auf den freien Povlsen zu spielen. Also wieder Klinsmann. Der legte den Ball mit der Hacke zu Riedle — dessen Schuß faustete Schmeichel zur Ecke. Und dann Vilforts größter Auftritt: Da die Füße nicht mehr wollten, nahm er Povlsens Zuspiel einfach mit der Hand an, stakste zwischen Brehme und Helmer hindurch und schoß mit letzter Kraft aufs Tor. Der Ball sprang vom Innenpfosten ins Netz — Dänemark war Europameister.

Und warum? Brian Laudrup: „Wir haben gut gespielt, aber auch ein bißchen Glück gehabt.“ Na also!

Deutschland: Illgner — Helmer — Kohler, Buchwald — Reuter, Häßler, Effenberg (81. Thom), Sammer (46. Doll), Brehme — Klinsmannn, Riedle

Schiedsrichter: Bruno Galler (Schweiz);

Zuschauer: 37.800 (ausverkauft);

Tore: 0:1 Jensen (19.), 0:2 Vilfort (79.).

Dänemark: Schmeichel — Olsen — Kent Nielsen, Piechnik — Sivebaek (67. Christiansen), Vilfort, Larsen, Jensen, Christofte — Laudrup, Povlsen