Risikodiskussion

Haben die Volksparteien noch eine Chance?  ■ VON HEINER GEISSLER

Umfragen zufolge trauen vier von fünf Deutschen Parteien und Politikern nicht mehr über den Weg und sprechen ihnen Glaubwürdigkeit ab. Mehr als die Hälfte der Wählerinnen und Wähler beantwortet die Frage, ob in Deutschland die richtigen Persönlichkeiten in Führungspositionen seien, mit „nein“. Das Vertrauen in die politischen Parteien ist abgesackt bis zur Unterkante des Kellergeschosses. Gelingt es den Parteien, sich wieder hochzurappeln, oder werden diejenigen Recht behalten, die jetzt überall in der Luft ihren Leichengeruch wittern? Sind sie tatsächlich historisch überholt, „out of time“, wie Antje Vollmer in dieser Zeitung geschrieben hat?

Parteienaversion in Deutschland ist kein Phänomen des Jahres 1992, sondern hat neben aktuellen auch geschichtliche Gründe. Es gibt drei historische Irrtümer der Deutschen im Verhältnis zur Demokratie und zu den politischen Parteien. Zunächst zählt dazu die privatistische Politikabstinenz, die vom Erker des Wohnzimmers aus beobachtet, wie sich Politiker im Gelände tummeln und sich die Hände schmutzig machen.

Geist und Macht klaffen auseinander

Dies entspricht der verbreiteten bürgerlichen Überzeugung, daß Politik ein schmutziges Geschäft sei, mit dem sich intelligente und anständige Leute nicht beschäftigen — ein Vorurteil, das die deutschen Akademiker, der deutsche Adel, die deutsche Bourgeoisie, die Fundis unserer Tage und die 68er Salonrevolutionäre geradezu liebevoll pflegten und noch pflegen. Geist und Macht, das waren und sind offenbar unüberbrückbare Gegensätze. Auf der einen Seite die Professoren, die Literaten, die Feuilletonisten als Lichtgestalten und Sonntagskinder, auf der anderen Seite politische Parteien und Parlamente als bevorzugter Aufenthaltsort für Schmuddelkinder und Dunkelmänner. Das Katheder und die Rednertribüne trennten Welten. Ein kulturhistorischer Irrtum zumindest, der aber in Deutschland weitreichende Folgen hatte. Vielleicht hätte Hitler verhindert werden können, wenn die Deutschen nach dem Tode Friedrich Eberts nicht gerade Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt hätten, der nach eigenen Aussagen außer der Bibel und dem preußischen Exerzierreglement noch kein Buch gelesen hatte. Die Aufgabe, Geist und Macht miteinander zu versöhnen, liegt in Deutschland noch vor uns.

Der zweite Irrtum, ein romantisches Mißverständnis, ist die Vorstellung, ohne politische Parteien auskommen zu können, von der Basis aus Demokratie zu praktizieren. Man kann aber einen Industriestaat mit 80 Millionen EinwohnerInnen nicht basisdemokratisch regieren. Basisdemokratie läßt sich vielleicht in einem Kreisverband der Grünen mit 150 Mitgliedern praktizieren, geht gerade noch im Halbkanton Appenzell in der Schweiz, im Kanton Bern aber schon nicht mehr.

„Die alten Geister rühren sich wieder“

Der dritte Irrtum, der schlimmste, ist der autoritäre, nämlich die typisch deutsche Lebenslüge, daß das deutsche Volk vor allem jemanden brauche, der ihm sagt, wo es langgeht. Danach wäre es nur konsequent, auf Parlament und politische Parteien — da störend — überhaupt zu verzichten. In der Weimarer Republik wurde das Parlament von den Rechtsradikalen als Schwatzbude diffamiert. Die alten Geister rühren sich wieder; hoffentlich bleiben sie Nachtgespenster.

Man kann das deutsche Volk heute nicht mehr antreten lassen und sagen: linksherum oder rechtsherum. Die Menschen wollen nicht kommandiert, sie wollen durch Inhalte und durch glaubwürdige, charaktervolle Persönlichkeiten überzeugt werden. Die Führung einer politischen Partei ist in besonderer Weise diesen Menschen verantwortlich, die durch ihre aktive Mitgliedschaft diese historischen, romantischen und autoritären Mißverständnisse längst überwunden haben und aktiv und engagiert einen unverzichtbaren Beitrag für unsere Demokratie leisten. Die Weimarer Republik ist ja, wie Richard von Weizsäcker gesagt hat, nicht zugrundegegangen, weil es damals zu viele Kommunisten oder zu viele Nazis, sondern weil es zu wenig engagierte Demokraten gegeben hat.

Natürlich reichen historische Reminiszenzen bei weitem nicht aus, um zufriedenstellend zu erklären, warum die Parteien im Ansehen der Menschen zur Zeit mehr als schwach auf der Brust sind. Aber man muß die historischen Zusammenhänge erkennen, um nicht dem Irrtum zu unterliegen, die Deutschen würden ihre Parteien eines Tages heiß und innig lieben.

Die Lage der demokratischen Parteien ist momentan durch ein riesiges Erklärungsdefizit gekennzeichnet. Wir sind Zeitzeugen des größten Umbruchs der Weltgeschichte, aber bisher hat es noch keine demokratische Partei fertiggebracht, den Menschen deutlich zu machen, daß es mit „politics as usual“ in außergewöhnlichen Zeiten nicht mehr getan ist. Dies erleichtert den radikalen Parteien ganz links und ganz rechts das Geschäft, einfache Parolen, die genau so dumm wie falsch sind, an den Mann beziehungsweise die Frau zu bringen. Die Herausforderungen durch neue Probleme wie die Migration, das Für und Wider einer multikulturellen Gesellschaft, die Frage des Zusammenhangs von Ökologie und Entwicklung gewinnen im Zusammenhang mit der deutschlandspezifischen Problematik des Wegs zur inneren Einheit hierzulande zusätzlich an Schärfe.

„Eine Chancendiskussion müßte geführt werden“

Deshalb ist es wichtig, den Menschen die Situation zu erklären, wie sie ist. Aber was wird statt dessen getan? Aus der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion wird „Esperanto-Geld“ gemacht; der „Wirtschaftsasylant“ ersetzt das dringend notwendige Konzept einer rationalen Einwanderungspolitik; eine fortschrittliche Umweltpolitik, die neue und wettbewerbsfähige Umwelttechnologien hervorgebracht hat, wird zum Standortnachteil für die Bundesrepublik umdefiniert; um die Pflegeversicherung zu verhindern, wird der Wirtschaftsstandort Deutschland von BDI, BDA und dem Wirtschaftsminister offensichtlich bar der Erhardschen Erkenntnis, daß Wirtschaftspolitik zu 50 Prozent aus Psychologie besteht, nach unten geredet.

Wir leisten uns den Luxus einer einzigen Risikodiskussion. Das wäre nicht schlimm, wenn es nicht gefährlich wäre. Denn eigentlich müßte eine Chancendiskussion geführt werden: Der Umschwung in der früheren Sowjetunion hat Abrüstung in fast ungeahntem Ausmaß möglich gemacht, in Ost- und Mitteleuropa öffnen sich riesige Exportmärkte für die deutsche Wirtschaft, der vor 45 Jahren noch utopische Gedanke der Vereinigten Staaten von Europa wird immer mehr zur Wirklichkeit, und Deutschland ist eines der attraktivsten Länder der Welt und hat alle Chancen, daß das so bleibt.

Allerdings hat die Union zusätzliche Probleme, um die sich die anderen demokratischen Parteien nicht zu sorgen brauchen: Die drei großen Ziele, mit denen der Name von CDU und CSU bis heute in Verbindung gebracht wird, sind verwirklicht oder jedenfalls im wesentlichen verwirklicht: Die staatliche Einheit Deutschlands ist geschaffen, die soziale Marktwirtschaft wird inzwischen sogar von der SPD in Parteiprogrammen erwähnt, und die Europäische Union befindet sich trotz des Rückschlages aus Dänemark auf einem guten Weg. Gerade was die europäische Einigung und die soziale Marktwirtschaft als originäre Ziele von CDU und CSU angeht, muß im übrigen Frau Vollmers Behauptung, die Grünen seien in den letzten 70 Jahren die einzige Partei gewesen, die als „Transformator einer neuen politischen Idee“ entstanden sei, widersprochen werden.

Es ist nicht so, als würden die Wählerinnen und Wähler der Union ihre großen Leistungen nicht honorieren. Aber sie möchten von der Union eben auch wissen, welche Themen in Zukunft ihre wichtigsten sein werden, und wie sie die Zukunftsprobleme lösen will. Angesichts der gewaltigen Umbrüche nicht nur in Deutschland und auf unserem Kontinent, sondern in der ganzen Welt, ist es notwendig, daß CDU und CSU ihre politischen Prioritäten diskutieren und neu ordnen. In gewissem Sinne ist dies für die Partei eine „Kulturrevolution“.

Der Wettlauf um die politische Erneuerung der demokratischen Parteien ist noch nicht entschieden. Manchmal hat man sogar den Eindruck, er hat noch nicht einmal richtig begonnen. Etwas mehr Mut, nach vorne zu blicken, wäre für Politiker aller Couleur schon wünschenswert. Wenn sich Modernisierungsbemühungen in allen Parteien immer nur mit jeweils einigen wenigen Namen verbinden, kann die ganze Sache nicht weit genug nach vorne gebracht werden, sondern bleibt auf der Stelle stehen. Werden aber neue Probleme und Herausforderungen nicht erkannt und keine Antworten darauf gegeben, dann machen sich diese Probleme mit der Zeit selbständig und suchen sich eine neue Trägerschaft. Wo die demokratischen Parteien nicht mit Konzepten und Persönlichkeiten überzeugen, gewinnen die Radikalen Zulauf.

„Wir wollen keine ita- lienischen Verhältnisse“

Aber selbst die radikalen Parteien, also PDS und „Republikaner“, sind eben Parteien, und genauso sind es die Grünen, auch wenn sie sich anfänglich als „Antipartei-Partei“ (Petra Kelly) bezeichnet haben. Die Frage ist deshalb auch nicht, ob die Parteien als solche überholt sind, sondern ob die Volksparteien eine Zukunft haben.

Ich behaupte: Volksparteien sind die Voraussetzung dafür, daß große Herausforderungen und Probleme, auch notwendige Reformen gemeister werden können. Nur Volksparteien sind in der Lage, unterschiedliche Interessen zu bündeln und auf das Gemeinwohl auszurichten. Nur Volksparteien können es schaffen, die Droh- und Störpotentiale, mit denen machtvolle Verbände politische Entscheidungen bedrängen, in Schach und Proportionen zu halten. Und nur Volksparteien können die mit den weltweiten politischen Veränderungen und der inneren Einheit Deutschlands verbundenen Spannungen aushalten und die damit einhergehenden schweren Konflikte überwinden und auch aussöhnen. Klassenparteien, Cliquen- oder Klientelparteien und Regionalparteien sind dazu nicht in der Lage.

Es sollte sich daher niemand wie selbstverständlich auf ein Vielparteiensystem einrichten. Daraus resultierende Koalitionen wären viel weniger oder überhaupt nicht in der Lage, die großen politischen Herausforderungen positiv zu gestalten. Wir wollen schließlich keine italienischen Verhältnisse, die zu einer Entmachtung der WählerInnen führen würden. Im Zweiparteien- oder Dreiparteiensystem können die BürgerInnen bei der Wahl die Grundentscheidung treffen, wer regieren soll. Wenn aber fünf oder sechs Parteien vorhanden sind, die ins Parlament kommen, wird den BürgerInnen diese Entscheidung weggenommen und in die Hand von Koalitionsunterhändlern nach der Wahl gelegt. Die Frage, wer regiert, ist nicht mehr das Ergebnis einer Grundentscheidung der Wählerinnen und Wähler, sondern einer Kungelei zwischen der Koalitionsparteien und den dadurch getroffenen Vereinbarungen.

Im Parteiengesetz werden die Aufgaben der politischen Parteien beschrieben. Sie sollen auf die öffentliche Meinung Einfluß nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der BürgerInnen am politischen Leben fördern, befähigte BürgerInnen zur Übernahme öffentlicher Verantwortung heranbilden, KandidatInnen bei Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden aufstellen, und sie sollen eine lebendige Brücke zwischen dem Volk und den Staatsorganen sein.

„Volksparteien sind politisch notwendig“

Eine wichtige Aufgabe ist nicht aufgeführt: für die Regierungsfähigkeit zu sorgen. Regierungsfähigkeit setzt eine stabile Regierungsmehrheit voraus. Unter den Bedingungen des Verhältniswahlrechts mit einer Fünfprozentklausel muß eine Partei möglichst so viele Stimmen bekommen, daß sie eine sichere Mehrheit entweder allein oder zusammen mit einem Koalitionspartner erhält. Im Gegensatz zu einem Land mit Mehrheitswahlrecht, wo sich die Parteien nur auf die Wahlkreise konzentrieren müssen, in denen sie eine Mehrheitschance haben, sind die Parteien bei uns darauf angewiesen, überall, in allen Regionen und in allen Schichten des Volkes, von möglichst vielen gewählt zu werden. Infolgedessen muß eine Partei, die strukturell mehrheitsfähig bleiben will, auch eine Partei sein, die alle Schichten des Volkes anspricht. Mit anderen Worten: Die Volkspartei ist unter den Bedingungen der Bundesrepublik Deutschland die für die Regierungsfähigkeit des Landes „notwendige“ politische Organisation.

Möglicherweise hat Peter Radunski Recht, wenn er sagt, daß die großen Parteien in Zukunft 40 Prozent der WählerInnenstimmen als gutes Ergebnis ansehen müßten. Vielleicht hat auch Kurt Biedenkopf recht, der in seinem Buch Zeitsignale davon ausgeht, daß wir uns in der Bundesrepublik Deutschland auf ein Fünf- oder Sechsparteiensystem einrichten müßten. Ob sie Recht behalten werden, hängt aber vor allem von den Volksparteien selbst ab.