Krieg in Helsinki

■ Monströse Kinderseelen: Der Roman „Mein Bruder Sebastian“ der finnischen Autorin Annika Idström ist eine Entdeckung

Der Buchumschlag zeigt eine abendliche Schlafstadt, Mietshaus neben Mietshaus, grünes Neonlicht und rötliche Vorhänge hinter den Fenstern. Helsinki könnte der Ort sein, aber genauso gut kann es sich um jede andere moderne Stadt der Gegenwart handeln.

Kaarina und ihr zwölfjähriger Sohn Antti leben allein und sehr zurückgezogen in ihrer Mietwohnung, sich mehr und mehr verfangend im Netz ihrer Isolation und gegenseitigen Abhängigkeit. Kaarina, leer und erloschen, verbringt ihre Tage mit Kochen, Backen, Putzen, Übersetzen und dem Schreiben eines Romans. Antti die seinen mit — Beobachten. Es ist ein grausiges, am Ende tödliches Beobachten, aus dem Antti eine Strategie des Verhaltens ableitet, mit der er vollkommen über seine Mutter verfügen, sie gefügig machen kann. So wie Antti gern über andere Menschen verfügen möchte. Er führt eine Datei über alle Personen seiner Umgebung; die Notizen versteckt er nicht: Name, Alter, Charakter. Für letzteres findet er ein Wort, höchstens zwei, und immer sind seine Psychogramme unfehlbar. Mutter und Sohn, nackt in ihrer gedoppelten Armut, verspinnen sich mehr in Hörigkeit als in Liebe. Ihre Glasglocke zerspringt, als Antti dem 30jährigen Miko begegnet. Miko ist Künstler und Killer. Miko mag „das Böse“ sein, das „Wandelbare“, Teuflische, die schöne begehrte Unruhe im öden Alltag, die dessen Bewohner verschlingt und als Hülsen wieder ausspuckt. Zwischen Antti und Miko bricht der Krieg aus um die Mangelware Liebe, ein Krieg zwischen Leuten, die quälen und „die man quälen kann“.

Und Antti ist ein Meister im Spiel des Quälens, ein Kind mit dem inneren Alter eines Greises, mit satanischer Lust an der glasklar inszenierten Grausamkeit. Antti lebt den schon erwachsenen Miko, er nimmt ihn noch einmal vorweg. Mit dem uralten, umgekehrten Blick des Greisen-Kindes, einem sezierenden und vereinzelnden Blick ohne Mitleid, zerstört er einen ihm ergebenen Schulfreund, aus Lust an der Zerstörung der ihm Ergebenen. Antti erinnert ethische Begriffe nicht mehr — sie liegen hinter einer Milchglasscheibe, die bestenfalls der lesende Beobachter des Beobachters Antti registriert. Es herrscht Krieg zwischen Antti und Miko, zwischen Antti und den Kindern Taru, Sebastian und Huuskonen, ein Zustand des Belauerns und Belagerns voller sumpfiger Liebes- und Haßgefühle, voller Armseligkeit. Eine verklärte „Kinderwelt“ existiert schon gar nicht; das „Kind“ ist nichts als eine geringere Summe an Jahren, verglichen mit der, die Erwachsene aufweisen.

Die Kinder im Roman, Sebastian, Huuskonen, das Mädchen Taru, nehmen, als wären sie sämtlich gelungene Resultate eines Frankensteinschen Experiments, die Abgebrühtheit ausgewachsener Monster vorweg. Sie tun dies mit Selbstverständlichkeit und einer gewissen perversen Eleganz, so wenn sie den fetten Teittinen mit dem Kopf ins Schulklo stoßen oder Taru zur Klassenhure machen.

Und über all dem vollziehen Kaarina, Antti und Miko eine mythische Dreiecksgeschichte in ihrem eigenen Mikrokosmos.

In einer der widerlichsten Szenen häuten Antti und sein Wahlbruder Sebastian junge Kreuzottern, die sie dann zwischen Steinen zerquetschen. Es gibt unter ihnen keine Verhaltensvariante zwischen „Befehlen“ und „Gehorchen“, und über all dem liegt „eine Stille wie kaltes dünnes Glas“. Die Erzählung gibt allmählich zu, was der Leser schon lange weiß, aber verleugnet: Die Kinder sind ebenfalls Killer, wie Miko, die in einer Kette „bedauernswerter Zufälle“ Babys ertrinken und Mütter verbrennen lassen. Die konventionelle Formel „bedauerlich“ löst im Roman tatsächlich noch etwas wie einen semantischen Rutsch aus, an dessen Ende man den gewohnten Zynismus eher unter die Freundlichkeiten einreiht. Nichts bedeutet den Kindern etwas: eben Nichts. Reduziert auf Beugen und Unterwerfen verkommen schließlich auch Anttis und Mikos Gewaltphantasien zu phantastischen Gewalttätigkeiten. Wer bringt den anderen zuerst um, wer überlebt die „Liebe“, wer besitzt wen?

Kaarina, die Mutter, die Geliebte, wird getötet — Antti hat sie umgebracht, aber es hätte genauso gut Miko sein können.

Das Ende steigert die Phantastik zur Farce: Miko schwört seinem Leben ab und geht in ein Kloster; archaischer könnte der Ort nicht gewählt werden. Antti kommt in die Vorhölle, ins Kinderheim. Dort gleicht sich seine äußere Erscheinung endlich seinem Wesen an: noch vor der Pubertät wird er grauhaarig, ein grauer Bart wächst ihm — ein üblerer Zwerg als Oskar Matzerath. Im Heim findet er auch die abgemagerte, mißbrauchte Taru wieder, mit der er das obsessive Spiel der Abhängigkeit wiederholt, bis Taru stirbt: an gebrochenem Herzen. Das ist fast zuviel des Schlechten und doch logisch.

Der Freund Sebastian, der für Antti so lange der Erwählte und Erwartete war, schreibt am Ende noch einen letzten Brief, der Antti eine abenteuerliche Reise verheißt. Aber dieser Brief ist an eine längst vergangene Zeit gerichtet, und so fällt er ins Leere. Es ist nicht einmal sicher, ob Sebastian ihn wirklich geschrieben hat und wo Antti und Sebastian sich treffen werden.

Die Autorin des Romans, Annika Idström, ist Finnin. Finnland hat derzeit noch mehr zu bieten als einzig die Filme der Kaurismäkis. Anke Westphal

Annika Idström: Mein Bruder Sebastian. Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara; Verlag Volk und Welt, 224Seiten, geb., 32DM.