Was was ist

Über Leos Carax' „Die Liebenden vom Pont-Neuf“/ Die Dreharbeiten dauerten drei Jahre, aber jetzt kommt der Film gerade richtig: als Gegenmittel gegen das Aids-Angst-Kino aus Hollywood  ■ Von Thierry Chervel

Der Steife wippt. Spielt keine Rolle. Fast wäre es schon zuviel, ihn überhaupt zu erwähnen, wenn es nicht doch etwas aussagen würde. In der einzigen Szene, die nicht in Paris spielt, rennen die beiden Geliebten nackt und lachend am Strand entlang. Die Kamera zeigt sie von ferne als Silhouetten, sie sind flink und schwarz wie kleine Insekten. Nebenbei zeichnet sich Alex' Steifer vom Abendhimmel ab, aber vielleicht nicht ganz nebenbei, denn Alex läuft doch auch leicht zurückgebeugt, um hinzuweisen und zur Geltung zu bringen, wie Pan. Die Nymphe freut sich auch.

Nebenbei traut sich Leos Carax in seinem Film, der keine „Sexszene“ enthält, mehr als andere Regisseure, die den Sex ins Zentrum stellen. Basic Instinct wurde mit dem Gerücht lanciert, dies sei der erste Hollywood-Film, in dem ein erigierter Penis zu sehen wäre. Als ob das an sich ein Verdienst wäre. In Wirklichkeit und zu Ende gedacht handelte der Film dann von nichts anderem, als daß er mit dem Eispickel geschnitten war. Gemein ist der Sex in diesem Hollywood der Fatal Attractions und Neuneinhalb Wochen, weil die Filme immer nur um diese Leerstelle kreisen und sie letztlich immer nur mit Blut zu füllen wissen. Immer bedrohlich und fatal, nie befreiend oder subversiv. Und bieder: Intensiv und wahr, glauben sie, wäre Sex, wenn der Mann der Frau schon auf der Küchenanrichte, und nicht erst im Bett die Kleider vom Leibe reißt. Obszön und unecht wie Muskelspiel und Aderwerk der Bodybuilder ist, was sie als Sex zeigen. Diesem Hollywood — es gibt auch ein anderes —, das die Welt mit seiner brutalen Calvinistenmoral versauen will, hatte als Filmland immer nur Frankreich etwas entgegenzusetzen: Renoir und Carné in der Spielregel und im Hôtel du Nord, Godard in Außer Atem, Eustache in Die Mama und die Hure und jetzt Carax.

Die Liebenden... sind schon Legende: Drei Jahre dauerten die Dreharbeiten mit langen Unterbrechungen, der Hauptdarsteller brach sich den Daumen, die Drehgenehmigung für den Pont-Neuf verfiel, die Brücke mußte über einem Bassin bei Montpellier als Kulisse nachgebaut werden, die Kulisse wurde in einem Sturm zerstört und mußte noch mal aufgebaut werden, zwei Produzenten trieb der Film an den Rand des Ruins, und er schien Fragment zu bleiben, bis Kulturminister Jack Lang persönlich das Institut pour le financement du cinéma anwies, die aufgelaufenen Schulden zu übernehmen, und ein dritter Produzent einstieg. Insgesamt hat der Film 140 Millionen Francs gekostet, 40 Millionen Mark. Für Deutschland wäre das ein exorbitanter Etat, für Hollywood Durchschnitt, für Frankreich ist es sehr viel. Carax brauchte es. „Als ich den Schmerz sah, den es uns bereitete, den Film zu drehen“, sagt er, „war das einzige, das uns retten konnte, die Großzügigkeit.“ Großzügig kann sich schließlich nur nennen, wer nicht nur schenken, sondern auch nehmen kann, und zwar mit aller Entschiedenheit. Aufgewandt wurden die Millionen für Michèle und Alex, zwei Clochards. Im Zentrum des Films stehen zwei Randfiguren.

Am Asphalt des Boulevard Sébastopol scheuert sich Alex die Stirn blutig wie an einer Parmesanreibe. Das Auto, aus dessen Perspektive der Film eröffnet wurde — eine Fahrt durch den Tunnel vom Seine-Ufer zum Boulevard —, zermalmt Alex' Fuß. Drin sitzt ein kosendes Liebespaar, das den Tatort in sportlicher Fahrweise verläßt.

Alex wird von einem Polizeibus aufgelesen, der ihn und andere Clodos am neuen Triumphbogen der Défense vorbei in ein vorstädtisches Asyl bringt — zittriges cinéma vérité. Atemberaubend sind die Aufnahmen im Bus, der singende Polizist, der Tumult in der Aufnahmestation nicht einfach, weil sie „dokumentarisch“ sind, sondern weil sie festgehalten werden wie ein warmes kleines Tier in der hohlen Hand, wie etwas sehr Kostbares, Rohes vielleicht, das der Wirklichkeit entwendet wurde und die nachfolgende Geschichte von Alex und Michèle in eine andere Perspektive rückt: Nicht daß die Clochards in dieser Szene „wirklich“ sind ist unglaublich, sondern daß Alex und später Hans und Michèle es nicht sein sollen.

Alex kehrt zum Pont-Neuf zurück, zum alten Clochard Hans (der Theaterregisseur Klaus-Michael Grüber in seiner ersten Filmrolle). Hier residieren die Randfiguren also, mitten in der Mitte von Paris, und mitten im Jahr der Revolutionsfeierlichkeiten, 1989, ist der Pont- Neuf, die älteste Steinbrücke der Stadt, der Inbegriff der Solidität, wegen Baufälligkeit gesperrt. Michèle kommt hinzu, die augenkranke Malerin gutbürgerlichen Ursprungs. Sie hatte Alex heimlich gemalt, als er halbtot auf dem Asphalt lag. Hans will sie verjagen. Alex handelt aus, daß sie bleiben darf.

Die Welt wird zur Staffage. Im nachhinein erweist sich, daß der ganze veranstaltete Taumel des Bicentenaire, die Wasservorhänge an den Seine-Brücken, Lichtergirlanden, Freiluftkonzerte, Brillantfeuerwerke, Militärparaden und dröhnenden Kunstflugfiguren mit trikoloren Kondensstreifen, doch einen Sinn hatten: als Kulisse für die Liebesgeschichte der Clochards Alex und Michèle. Darum stellt die bruchstückhafte Struktur des Films, die sich aus den komplizierten Produktionsbedingungen erklärt, auch nicht eigentlich ein Problem dar. Es gibt Szenen, wo der Film innerhalb eines Dialogs vom wirklichen Pont-Neuf ins nachgebaute Dekor schneidet, das trotz seiner Wirklichkeitstreue erkennbar bleibt. Mal fließt die Seine, mal ist sie ein stehendes Gewässer in milchigem Provence-Licht, mal bildet die Samaritaine einen soliden Block, dann schwankt sie im Wind. Es macht nichts — Kulisse ist Paris so oder so. Alex und Michèle bewegen sich darin wie losgelassene Kinder, wie zwei kleine Einbrecher in der nächtlichen Spielwarenabteilung eines Kaufhauses.

Total gelingt die Loslösung allerdings nicht. Sie liegt auch mehr in seinem Interesse als in ihrem, denn anders als Alex, den offensichtlich nichts als die Brücke bindet, und ähnlich wie Hans hat Michèle eine Vorgeschichte. Sie ist aus der Kulisse auf die Bühne getreten. Aus Kummer hat sie sich in die Asozialität begeben. Der Kummer heißt Julien und spielt die Cello-Sonate von Zoltan Kodaly in den unentwirrbaren Schächten der Metrostation ChÛtelet. Sie jagt ihn nach Gehör, aber Alex findet und vertreibt ihn. Systematisch und skrupellos zerschneidet er ihre Bindungen ans Vorher, um sie ganz zu haben. Darum auch hat er gegen ihre Augenkrankheit — sie droht zu erblinden — nichts einzuwenden.

Rasend ist nicht allein Alex' und Michèles gemeinsamer Rausch, sondern auch ihre Panik und seine Eifersucht. Was was ist, läßt sich nicht immer unterscheiden, auch nicht, was wirklich ist: Michèle hat eine Pistole. Schießt sie wirklich, oder träumt sie nur? Selten findet der Film einen Halt. Technisch erreicht Carax die Rasanz durch den Schnitt — besonders den Tonschnitt. Der Schuß ist gefallen, Michèle steht noch erstarrt, aber schon kreischt die U-Bahn aus der nächsten Einstellung. Der Ton schafft den Drive, wie in Alex' Feuerschluckszene, die im Ton nahtlos, im Bild durch harten Schnitt mit den paradierenden Düsenjägern gekoppelt ist.

Der Moment der — dramaturgisch etwas konstruiert wirkenden — wundersamen Errettung Michèles von ihrem Augenweh ist zugleich der Moment der Entzauberung. Alex verliert Michèle an die Welt. Sie findet zum Augenarzt. Dafür, daß er konsequent versucht, ihre Rettung zu verhindern, kommt er ins Gefängnis.

Dieses letzte Drittel und das anschließende Happy-End sind schwach im Vergleich zum überwältigenden Anfang. Aber das Happy- End wider die Logik des Films und besseres Wissen ist auch eine Schwäche, die sich der Film konzediert. Wahrscheinlich ist es richtig, daß es nicht einmal ironisiert, kaum infragegestellt wird, denn es ist heute, angesichts des herrschenden Pro-Familia- und Aids-Angst-Kinos, kühner zu sagen, daß Leidenschaft und Erotik möglich sind. Ursprünglich war ein anderer Schluß vorgesehen, einer von beiden sollte sterben, oder sie sollten sich trennen. Der Schluß versteht sich, so wie er jetzt ist, auch als Huldigung an die Hauptdarsteller, die Alex und Michèle drei Jahre lang mit sich herumschleppen mußten, als Liebeserklärung an Denis Lavant, dem man kaum abnehmen mag, daß er nicht Alex ist, und an Juliette Binoche, die sich dem Kino für Carax drei Jahre lang entzog, und damit das schönste Lächeln der Welt (außer einem).

Die Liebenden vom Pont-Neuf. Regie und Drehbuch: Leos Carax, Kamera: Jean-Yves Escoffier, Ausstattung: Michel Vandestien, Ton: Henri Morelle, Schnitt: Nelly Quettier. Mit Juliette Binoche, Denis Lavant, Klaus-Michael Grüber. Frankreich 1991, 125 Minuten.