KURZESSAY
: Dschungel oder Käfig?

■ Milos Forman zur Zukunft der CSFR

Wir hier im Westen wissen, daß wir in einem Dschungel leben, ein gefährlicher, unberechenbarer, aber auch aufregender Ort mit lebendigen Farben und einer endlosen Vielfalt von Leben. Wir neigen dazu, zu vergessen, daß die Menschen aus dem früheren kommunistischen Lager mehr als 40 Jahre im Zoo lebten. Gesichert hinter Gittern, träumten sie dennoch von der Schönheit und Freiheit des Dschungels. Da, plötzlich, sprangen die Türen der Käfige auf, und alle rannten euphorisch hinaus in die Wildnis: „Wie schön doch der Dschungel ist! Wie wunderbar, endlich frei zu sein!“ Aber sobald die Menschen aus den Käfigen gerannt waren, mußten sie auch lernen, daß der Dschungel voller Schlangen ist, voller Tiger, Hyänen, Ratten... Und sie entdeckten zudem, daß all diese Kreaturen gemäß ihrer Natur lebten. Der Schock darüber ließ die alte Frage aufkommen: „Ist es besser, im Dschungel zu leben oder wieder im Zoo?“ Einige fingen an, die Sicherheit des Zoos zu vermissen. Was gestern noch Langeweile war, wurde nun als göttlicher Friede und heitere Gelassenheit erinnert. Was früher nur Minimum fürs Überleben schien, wurde als geradezu üppig nachempfunden.

Und so kam es, daß, als diesen Monat die Tschechen und die Slowaken zu den Wahlurnen gingen, einige das Lied der Vergangenheit sangen: „Ging es uns nicht besser im Käfig? Erinnert ihr euch, wie sicher es dort war? Wie leicht wir es im Zoo hatten? Wie wenig wir arbeiten mußten und wie man uns jeden Tag fütterte?“ Wen wundert's, daß viele der WählerInnen nicht länger ihren Träumen nachhingen und begannen, sich rückwärts zu bewegen. Was uns zur entscheidenden Frage bringt: „Gibt es etwas zwischen Dschungel und Zoo?“ Die ehemaligen Kommunisten versprachen dem Wahlvolk, bei ihrer Rückkehr zur Macht würden sie wunderschöne Orchideen und Lianen im Zoo pflanzen, damit diese die Gitterstäbe verbörgen. Sie würden nur ein oder zwei Schlangen hier und da freilassen, um den Menschen die reizvolle, aber sichere Illusion vom Leben im Dschungel zu geben. Demgegenüber argumentieren westliche Liberale, die Lösung liege in der Respektierung des Dschungels. Hier und da wollen sie Zäune errichten, Höhlen und Reservate, damit jeder die Sicherheit des Zoos mitten im Dschungel genießen könne.

Beide Ideen sind verlockend, aber funktioniert die Natur solcherart? In der CSFR jedenfalls stimmten die Tschechen für den Dschungel, während die Slowaken den Zoo wählten. Ein Kompromiß zwischen beiden ist unmöglich. Die einzige Chance, dieses Land zusammenzuhalten — wenn es denn noch eine gibt — ist, die Tschechen zu überzeugen, sie sollten das Leben im Zoo akzeptieren oder aber den Slowaken zu erklären: Das Leben in einem kapitalistischen Dschungel lohnt sich, es gibt keinen Grund zur Panik, da man ja lernen kann zu überleben, ja, gedeihen in einer wilden, wunderschönen Natur — ist man nur willens, daran zu arbeiten. Milos Forman

Der tschechoslowakische Filmemacher und Freund Václav Havels ist seit 1975 Staatsbürger der USA; aus: 'Washington Post‘ vom 29.6. Übersetzung aus dem Amerikanischen: AS