Flugblätter, die über zwei Kilogramm wiegen

■ »Der Teufel in Berlin«: Ein Buch von Ursula E. Koch über illustrierte politische Witzblätter von 1848 bis 1890

Bücher, die schwerer als zwei Kilogramm sind, mag ich eigentlich nicht: Die Verletzungsgefahr beim Lesen im Bett ist besonders groß — falls ich mal einschlafen sollte. Das Buch Der Teufel in Berlin, über die Satireblätter der Stadt zwischen 1848 und 1890, kommt mit seinen 880 Seiten bei meiner Küchenwaage auf ein Gewicht von 2,3 Kilogramm. Trotzdem: ein gutes Buch; ein so gutes, daß man zwei daraus hätte machen sollen.

In einer unendlichen Fleißarbeit hat Ursula E. Koch Materialien zusammengestellt, die dem am Thema interessierten Leser eine Fülle neuer Erkenntnisse bringen; und dies in einer lockeren, verträglichen Schreibe, wie man sie von jemandem, der Kommunikationswissenschaften lehrt, erwarten sollte.

Der Teufel in Berlin ist der fünfte Band des Kölner Verlages „c.w. leske“ in seiner Reihe über Satire und Macht. Es begann 1982 mit einer Publikation über das bekannteste Berliner Witz- und Satireblatt, den 'Kladderadatsch‘. Band 4 kam 1986 als der 'Struwwelhitler‘ heraus und dokumentierte die britische Satireagitationsschrift gegen die Nazis aus dem Jahr 1941. Der jetzt vorgelegte Band ist der weitaus umfangreichste der Reihe. Er gibt einen anschaulichen Überblick über die Berliner politische Satire zwischen der März-Revolution 1848 und Bismarcks Entlassung 1890. Einschließlich Auflagen- und Formatangaben schildert die Autorin das Schicksal vieler Zeitschriften, die heute völlig unbekannt sind. Nach dem Fall der Zensur, den die Revolutionäre in Berlin durchgesetzt hatten, war die Stadt plötzlich voll von Flugschriften, Zeitungen und Zeitschriften. Es gab bei weitem nicht nur den heute noch bekannten 'Kladderadatsch‘, dessen erste Nummer am 7. Mai 1848 herauskam und gleich eine Auflage von 4.000 erreichte.

Von den 35 ironisch-kritischen und humoristisch-satirischen Titeln kamen aber nur sieben über Probenummern — oder einige wenige Ausgaben — hinaus. Eine der ersten Zeitschriften war der 1847 gegründete 'Berliner Charivari‘, der, nachdem er nach einer Skandalgeschichte (Der Matratzenfall in Potsdam) Ärger mit der Zensur bekommen hatte, ab Nr. 4 'Satan. Berliner Charivari‘ hieß und schließlich ab der siebten Ausgabe (die wieder eine Nr. 1 war) als 'Der Teufel in Berlin‘ von demselben Drucker und Verlag weitergeführt wurde.

Überhaupt, die Namen! Phantasie an die Macht! 'Die ewige Lampe‘, 'Der Satyr‘, 'Feuerbrände‘, 'Kickeriki‘, 'Tante Voss mit dem Besen‘, 'Berliner Krakehler‘, 'Berliner Figaro‘, 'Berliner Großmaul‘, 'Staatszeitung der Hölle‘, 'In Berlin is immer noch der Deibel los‘, 'Zeitgedanken ohne Mißverständnisse‘ — Ursula Koch hat sie alle zusammengetragen. Sie können in einer Übersicht nachgelesen werden.

Die Satireblätter waren wichtige Mittel der politischen Agitation der verschiedenen demokratischen Strömungen und erreichten eine enorme Verbreitung. Einzelne Nummern des 'Berliner Krakehler‘ kamen mit bis zu 20 Auflagen auf insgesamt 20.000 Exemplare. Manche hatten fast den Charakter einer Tageszeitung und erschienen sechsmal in der Woche. Interessant auch zu erfahren, daß nicht nur die Demokraten Satirezeitungen veröffentlichten, sondern auch die erstarkende Reaktion. 'Der Rückschritt‘ nannte sich »Organ für freie Reaktion«. 'Juchheirassa — Die Preußen sind da‘ schlug in die politisch selbe Kerbe. Ursula Kochs These: die Geschichte der Witzblätter gleicht einem Drama in drei Akten. Nach dem Aufschwung und dem allmählichen Niedergang der meisten Blätter kam bis 1890 die Phase der Anpassung und Entpolitisierung der übriggebliebenen.

Mit den Kurzbiographien der Autoren, Zeichner und Verleger und einer alphabetischen Liste der Zeitungen und Zeitschriften hätte es die Autorin bewenden lassen können. Sie hatte aber wohl den Ehrgeiz, viel Wissen und nicht zuletzt das Material, um auch noch einen kleinen politischen Abriß der europäischen Geschichte zwischen 1848 und 1890 zu geben — aus der Sichtweise der Berliner Satireblätter. Die Zeit zwischen bürgerlicher Revolution und dem Abgang Bismarcks wird noch einmal aufgerollt. Die Kleinigkeit nimmt weitere 300 Seiten des Buches ein. Zugegeben, sie sind nett geschrieben und gut illustriert; auch werden Interpretationshilfen für heute unverständliche Karikaturen gegeben: Politische Satire ist heute wie damals kurzlebig. Jedoch lassen sich Doppelungen zum ersten Teil des Buchs nicht vermeiden. Auch sind manche Reproduktionen einfach zu klein.

Warum hat der Verlag nicht zwei Bücher (oder eins mit weniger Umfang) draus gemacht? Dann wäre jedes Buch sicherlich leichter als zwei Kilogramm gewesen und würde nicht 128Mark gekostet haben — ein Preis, der nur Enthusiasten und professionell Interessierte zum Kauf veranlassen wird. Jürgen Karwelat

Ursula E. Koch: Der Teufel in Berlin — Von der März-Revolution bis zu Bismarcks Entlassung, Illustrierte politische Witzblätter einer Metropole 1848-1890 . informationspresse — c.w. leske verlag, Köln, 880 Seiten, 350 Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag, 128 DM.