Die rasende Unsterblichkeit

Beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb besiegte der Fußball die Literatur  ■ Von Elke Schmitter

„Ich muß auch wieder zum Lesen kommen.“ Uwe Seeler, FC Schalke 04, nach einer Knieverletzung.

„Literatur ist für alle da.“ Uwe Wittstock, FC S. Fischer, nach einer Kopfverletzung.

„Und wieder einen Eimer Kunsthonig an die Front gebracht.“ Christoph Buchwald, FC Hanser, in demselben Interview.

Klagenfurt, so sagen die Kenner, ist wie jedes Jahr geblieben. An der Grenze ist es wieder ruhig, Slowenien liegt beschaulich in der Nachbarschaft, und der aus Hör- und Sichtweite gerückte Krieg ist Gegenstand von Spendenaktionen. Geändert hat sich einzig, daß auf dem Weg zwischen Innenstadt und ORF- Studio, den alle — DichterInnen, JurorInnen, KritikerInnen — gleichermaßen morgens wie abends beschreiten, sich eine Live-Peep-Show angesiedelt hat. Für die berühmteste Klagenfurter Fremdenverkehrsveranstaltung allerdings, die inzwischen als „Woche der Begegnung“ vom Oberbürgermeister und allerlei Sponsoren begeldet und beschirmt wird, ist diese Investition vollkommen sinnlos: Wie auf den Buchmessen in Frankfurt am Main und Leipzig bleibt auch hier die Branche unter sich. Nachdem die Rotlichtbezirke in aller Welt von Journalisten der 'FAZ‘ und 'Zeit‘ mit dem letzten sprachlichen Abglanz gesegnet und damit literarisch tabu geworden sind, zudem für körperlichen Abtrieb in Klagenfurt das Fußballspiel „Autoren gegen Journalisten“ eingerichtet wurde, zeigt sich einmal mehr, daß Literatur ein Diskurs ist, dessen TeilnehmerInnen sich am liebsten aufeinander beziehen.

Das muß kein Verlust sein. Die Klagenfurter Spiele, in diesem Jahr deutlicher denn je im Zeichen des Fußballs ausgetragen (EM! Der Sieg der Butter und des flachländischen Unernstes!), ließen an Spannung so sehr zu wünschen übrig, daß die Echtzeitübertragung des Österreichischen Fernsehens vor allem vom Publikum den Sportsgeist des unbedingten Durchhaltens verlangte. So war denn auch das Fußballspiel am Samstag nachmittag, auf das wir gleich zu sprechen kommen werden, der deutlichste Wettbewerbseindruck der Berichterstattenden.

Im Marathon zwischen dem gesellschaftlichen Verlangen nach Literatur und seinem Gegenstand, der mit insgesamt 21 Lesungen um den Ingeborg-Bachmann-Preis ausgetragen wurde, erwies sich wieder einmal das Begehren als das stärkere Phänomen. Sein Gegenstand, Papier geworden, läßt nur eine Schlußfolgerung zu und nur eine Forderung notwendig erscheinen: Die deutschsprachige Literatur ist erstens nicht auf der Höhe ihrer Zeit. Und zweitens ist mit sofortiger Wirkung jegliche Förderung derselben für fünfzehn Jahre einzustellen. Anschließend wird man sehen, ob es der Literatur genützt oder geschadet hat. Ich verwette meine gesamten Suhrkamp-Romane der letzten sieben Jahre: Für die Literatur ist eine solche Maßnahme folgenlos. Aber die Menschen werden glücklicher sein. Man tut den jungen Leuten um die Dreißig keinen Gefallen, wenn ihnen mit Stipendien, Stadtschreiberpreisen, Projektförderungsgeldern und Subventionen aller anderen Art eine Existenz ermöglicht wird, die kein biographisches Zurück mehr gestattet, obwohl sie auf wenig mehr basiert als auf dem guten Willen zur Literatur. „Die Unsterblichkeit“, so der unsterbliche Sartre, „ist ein schreckliches Alibi: Es ist nicht leicht, mit einem Fuß diesseits und mit dem anderen jenseits des Grabes zu leben.“ Dank der gewerkschaftlich erkämpften 38,5-Stunden-Woche ist es möglich, neben einer geld- und nutzbringenden Tätigkeit im Versicherungswesen dreimal Das Schloß umzuschreiben, bis die Rente kommt und damit die Möglichkeit, es auch Fontane gleichzutun. Wenn Popmusik in demselben Maße gefördert würde wie die Literatur, wir würden alle um Ertaubungsgeräte anstehen. Nur weil man die Augen schließen kann, die Ohren aber nicht, wird das Verfertigen von Sätzen auf Papier so entschlossen und sinnlos gefördert.

Machen wir es also kurz: Den Bachmann-Preis selbst erhielt, verdient und einmütig, die debütierende Alissa Walser für eine inzestuöse Vater-Tochter-Geschichte, die genau, pointiert und mit schöner Lakonie die Liebe in den neunziger Jahren per Kontaktanzeige, Fax und portablem Telefon ins Bild brachte. Der Preis des Landes Kärnten ging an den Luchterhand-Autor Alois Hotschnig (Eine Art Glück) für einen Romanausschnitt, in dem er in kargen, trockenen, dabei nicht unpoetischen Sätzen den Alltag eines Rettungsfahrers beschreibt. Den Ernst-Willner- Preis, gestiftet von 19 Verlagen, bekam der Suhrkamper Ulrich Holbein (Hase und...) für eine hie und da leicht abgestandene, insgesamt aber gelungene Satire auf den Größenwahn des Schriftstellers. Die drei Förderpreise gingen an Ulrich Peltzer (Berlin), Burkhard Spinnen (Münster) und Fritz Krenn (Graz); nicht bedacht wurde die Sprachspielerin Ginka Steinwachs, die mit einem charmanten Nebenwerk über die Erotik (einem Text, der selbst erotische Qualitäten aufweist, was an sich schon preiswürdig ist im deutschen Dürrefeld) ihre Aufwartung machte — womit wieder einmal erwiesen ist, daß plan gearbeitete Texte der mittleren Komplexitätsstufe (hinreichend für eine halbstündige Diskussion ohne formale Zwistigkeiten) in Klagenfurt die besten Chancen haben. Die Jury selbst befand sich auf eher kläglichem Niveau. Fürs nächste Jahr sollten folgende Sätze die rote Karte nach sich ziehen: „Ich habe gelacht, aber unter meinem Niveau“, „Die Satire darf alles“ und „Das ist wahrscheinlich postmodern.“ Möglicherweise ist der müde Verlauf der KritikerInnendebatten nicht allein auf deren Gegenstand, sondern auch auf das Spannungs-Kontrast-Erlebnis Fußball zurückzuführen, das den Wettbewerb begleitete. Das letzte Gestirn der Geschlechterdifferenz leuchtete immerfort am blauen Himmel über Kärnten und stürzte am Samstag nachmittag hernieder, als die Mannschaft der Lektoren und Autoren gegen die Kollegen vom ORF antrat.

Mit einem kräftigen „Hipp-Hipp- Hurra!“ wurde das Publikum gegrüßt und die Trikotmutti Romy Friesnegger, Managerin des FC Klagenfurt, wie jedes Jahr geehrt. Lektor Buchwald wurde für die Autoren (Trikos pink/weiß, der ORF im traditionellen Mittelblau) durch einfaches Handheben zum Mannschaftskapitän gewählt. Beim Schiedsrichter handelte es sich um einen Eishockeymann, was zu einer sehr freien Auslegung der Regeln führte, den Spielfluß aber beförderte. Ein frühes erstes Tor in der fünften Spielminute — wunderbar herausgespielt und durch gewisse Schwächen in der ORF-Abwehr begünstigt — von einem Fremdenlegionär der Autorenmannschaft (dem ORF entliehen) erzielt, sorgte für sofortige Spannung. Nachdem der ORF schon in der ersten Pause des dreiteiligen Spiels (von insgesamt 60 Minuten) versucht hatte, die gegnerische Mannschaft durch den Genuß von Bier zu zermürben, erzielte er im zweiten Spielteil das Ausgleichstor durch eine Standardsituation: Ein Freistoß aus 25 Metern senkte sich wie Blei hinter den Autor Friedrich Ani, auch die „Katze von Klagenfurt“ genannt, unhaltbar ins Netz. In der Folge machte sich der starke Zigarettenkonsum der Autorenmannschaft in den zurückliegenden Klagenfurter Tagen & Nächten bemerkbar, was das Spieltempo reduzierte und dem ORF taktische Vorteile brachte. Er erzielte binnen weniger Minuten die Anschlußtreffer von 2:1 und 3:1, was wiederum bei den pink-weißen Panthern zu einem deutlichen Motivationsschub und einer Leistungssteigerung enormer Art führte: verstärkte Manndeckung. Vorchecking schon im Mittelfeld und unbedingter Torwille verdienten das sportliche Lob. Erste Ergebnisse schon gegen Ende des zweiten Spieldrittels: ein Lattenschuß von Buchwald und, kurz vor dem Schlußpfiff, der Anschlußtreffer ins linke Eck — ein unhaltbar gefährlicher Drehschuß.

Im Schlußdrittel des Spiels war auch beim ORF, gehandikapt durch ein deutlich höheres Durchschnittsalter, Formschwäche nicht zu übersehen. Durch geschickte Spielpässe erlangte die Autorenmannschaft den Ausgleichstreffer und, nach einem glücklichen Gegentor des ORF, erneut eine Minute vor Schlußpfiff — den Ausgleich 4:4, was den Stärken und Schwächen beider Mannschaften fairen Ausdruck verlieh. Gesamtbilanz nach drei Jahren Klagenfurter FC: 10:10 Tore, 3:3 Punkte. Entscheidungsspiel nächstes Jahr in Kärnten.