Für die Industriestaaten ist die Schuldenkrise beendet

...nicht aber für die Entwicklungsländer: Das Schuldengebirge zwingt die armen Länder zum Ausverkauf/ Kein Thema für den Wirtschaftsgipfel  ■ Von Kurt Hübner

Es ist noch nicht lange her, da hatten die Regierungschefs der sieben entwickeltsten kapitalistischen Länder bei ihren euphemistisch „Weltwirtschaftsgipfel“ getauften Diner- Treffs regelmäßig einen Punkt auf ihrer Tagungsordnung, der die internationale Schuldenkrise zum Thema machte. Anfangs geschah dies noch aus Gründen des schieren Eigeninteresses: Es bestand die reale Gefahr, daß das Weltfinanzsystem im Falle einer kollektiven Zahlungsverweigerung der Schuldnerländer zusammenbrechen könnte. Als später aber mit wachsender Risikovorsorge des internationalen privaten Bankensystems an der Kollapsfront Entwarnung gegeben werden konnte, wurde dieser Top zunehmend zur symbolischen Politik.

Die Gipfelkarawane zieht weiter

Heute will von Schuldenkrise keiner mehr sprechen. Kleinere Schenkungsaktionen im Rahmen internationaler Großkonferenzen, so will man der Öffentlichkeit weismachen, reichten aus, um dieses Randproblem der Einen Welt in den Griff zu bekommen. Die Karawane der politicos aber zieht weiter zu den globalen Problemen, deren Thematisierung mehr öffentliche Aufmerksamkeit und höheren Prestigegewinn verspricht (s.Kasten). Aus der Perspektive einer ökonomischen Theorie der Demokratie ist ein solches Verhalten höchst verständlich: Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank, G-7-Regierungen und das private Bankenkapital haben es gemeinsam mit den semi-institutionellen Einrichtungen der Gläubiger- Staaten und -Banken (Pariser und Londoner Club) geschafft, die Bestandsgefährdungen für das kapitalistisch organisierte Geld- und Kreditsystem abzuwenden. Aus Gründen der Wählerstimmenmaximierung besteht also nicht länger Anlaß, sich mit dem von den Ländern der kapitalistischen Peripherie angehäuften Kreditgebirge und seinen entwicklungspolitischen Folgen zu beschäftigen. Aus der beschränkten Sicht des Zentrums kann die ökonomische Konstellation, die als internationale Schuldenkrise umschrieben wurde, als beendet erklärt werden.

Ökonomische Reichtumslücke

Keineswegs beendet ist die Schuldenkrise freilich für die Länder der Peripherie und deren Bevölkerungen. Zwischen 1982, dem Jahr des offenen Ausbruchs der Schuldenkrise, und 1992 haben sich die Auslandsschulden dieser Länder von 820 Milliarden auf 1.400 Milliarden US- Dollar erhöht — und dies trotz des entwicklungspolitisch perversen Faktums, daß die Länder der Peripherie in den letzten fünf Jahren weit mehr Devisen an die Banken, Unternehmen, Regierungen und supranationalen Institutionen überwiesen haben, als sie im gleichen Zeitraum von diesen an Zuflüssen erhalten haben. Der Nettokapitalexport von zuletzt fast 50 Milliarden US-Dollar bedeutet für die verschuldeten Ökonomien eine Beschneidung ihrer Ressourcen-Basis, die für das Vorantreiben einer internen Entwicklung dringlichst benötigt würde.

So ist es nur folgerichtig, daß sich die ökonomische Reichtumslücke zwischen kapitalistischem Zentrum und Peripherie immer weiter öffnet. Gleichzeitig zerfallen die Infrastruktureinrichtungen der Peripherie beschleunigt, die Investitionsquoten sinken ab, die formellen Beschäftigungsverhältnisse gehen zurück, und die Zahl der unterhalb der Armutsgrenze vegetierenden Menschen erhöht sich schnell, wodurch wiederum die armutsbedingten ökologischen Zerstörungen zunehmen. Kurzum, es kommt ein Mechanismus von monetärer Abhängigkeit und systematisch erzwungener Fehlallokation zum Tragen, der keinen Ausweg aus der Schulden- und Armutsfalle zuläßt.

IWF und Weltbank verkünden heute, daß die Länder der verschuldeten Peripherie in ihrer marktwirtschaftlichen Zurichtung zum Teil beachtliche Fortschritte gemacht haben und ihre Exporterlöse haben steigern können. Tatsächlich ist die Schuldendienstquote sowohl der fünfzehn hochverschuldeten Länder mit mittlerem Einkommen als auch der sechsundzwanzig hochverschuldeten Länder mit niedrigem Einkommen zwischen 1985 und 1990 um zehn beziehungsweise sechs Prozentpunkte zurückgegangen. Auch sind die Exporterlöse einer ganzen Reihe verschuldeter Ökonomien angestiegen. Es ist gelungen, Handelsbilanzüberschüsse zu erzielen und das Wachstum des Sozialprodukts zu steigern. Diese kurzfristigen Erfolge haben freilich einen Preis. Immer noch muß nämlich, erstens, ein Viertel aller Exporterlöse für die Leistung des Schuldendienstes, also für die Zahlung von Zinsen und — manchmal — Tilgungen verwendet werden. Ein Viertel der dem Weltmarkt entgeltlich zur Verfügung gestellten jährlichen Reichtumsproduktion muß mithin aufgewendet werden, um die laufenden Zinskosten fehlgeschlagener Entwicklungshoffnungen zu finanzieren — Ressourcen, die für Umsteuerungsprozesse und zur sozialen Abfederung interner Anpassungsprozesse fehlen. Zweitens: Die wachsenden Exporterlöse vieler verschuldeter Ökonomien der Peripherie sind nicht etwa das Resultat steigender Weltmarktpreise. Tatsächlich haben sich die Relativpreise für Produkte peripherer Ökonomien die gesamten achtziger Jahre hindurch verschlechtert. Die höheren Einnahmen verdanken sich vielmehr einem reinen Mengenwachstum, das höher ausfiel als die Preisrückgänge, so daß die Exportwerte anstiegen. Zu diesem Preisverfall haben nicht zuletzt strukturelle Anpassungsprogramme der Weltbank beigetragen, die gleich einer ganzen Reihe ihrer Klientel- Staaten zwangsweise empfohlen haben, verstärkt Produkte wie Kaffee, Kakao oder tropische Früchte anzubauen. Mit der Folge, daß sich die Angebotskonkurrenz intensivierte und die Weltmarktpreise bei unterproportionaler Zunahme der Nachfrage in den Keller fielen.

Der Ausverkauf nutzt dem Norden

Verkauft eine Ökonomie, ohne daß es zu entsprechenden Produktivitätsfortschritten gekommen wäre, größere Mengen zu geringeren Preisen, nennt man dies üblicherweise Ausverkauf. Die Zentrumsökonomien des Nordens profitieren von diesem Ausverkauf nicht allein durch den stetigen Nettorückfluß an Kapital, sondern auch und vor allem in Gestalt einer Verbesserung der terms of trade. Die damit einhergehende Vergrößerung des Verteilungsspielraums in den Zentrumsökonomien spiegelt sich in den verschuldeten Wirtschaften des Südens gleich zweifach wider: Zum ersten werden dort die heutigen Verteilungsspielräume verringert. Die öffentliche wie die private Armut nimmt entsprechend zu. Zum zweiten verschlechtert der Ausverkauf aber auch die zukünftigen Verteilungs- und Entwicklungsspielräume, weil die heute lebenden Generationen bereits auf stoffliche und wertmäßige Ressourcen zurückgreifen, über die ohne den ökonomischen Zwang der Schuldenkrise spätere Generationen hätten verfügen können.

Die hoffnungsvolle Interpretation der Schuldensituation seitens Weltbank und Währungsfonds und die demonstrative De-Thematisierung des Schuldenproblems seitens der G-7- Leader entspricht deshalb im besten Falle einem wishful thinking und im schlimmsten Falle einem realpolitischen Zynismus, der keinerlei Probleme hat, die Finanzierung der Vergangenheit in der Gegenwart durch Vorgriff auf die Zukunft mit dem Verweis auf die marktwirtschaftliche Rationalität der ökonomischen Transaktionen zu rechtfertigen. Solche Haltungen mögen kurzfristig politische Entlastung bringen. Mittel- und langfristig wird diese Kurzsichtigkeit freilich dazu führen, daß die Schuldenkrise in Verbindung mit armutsbedingten Wanderungsbewegungen und Umweltzerstörungen bislang nicht gekannten Ausmaßes auf die Tagesordnung der Weltpolitik zurückfindet.

Allerdings spricht aus heutiger Perspektive wenig dafür, daß die polit-ökonomischen Machtinteressen des Zentrums dann eher an einvernehmlichen Lösungen des Grundkonflikts interessiert wären.

Der Autor ist Gastprofessor für Politische Ökonomie an der Gesamthochschule Kassel.