Der Traum vom Kugelschreiber

Im Polizeirevier der sächsischen Kleinstadt Weißwasser: Der Frust mit der Anpassung an westliche Polizeistrukturen geht bis ins Ausfüllen von Formularen/ Die Verbrechensentwicklung überfordert die Beamten, der Rechtsstaat ist ihnen zu lax  ■ Aus Weißwasser Bascha Mika

Tack! Daneben. „Mist!“ Nächstes Kästchen. Amtliches Kennzeichen? „WSW...“ Wie ein Geier kreist der Finger des Beamten über der Tastatur, erspäht das „W“, stößt herab, das Buchstabenärmchen schnellt hoch, knallt aufs Papier: Tack! Wieder nichts. Nicht im sauber vorgezeichneten Formularfeld ist das „W“ gelandet, sondern auf dem linken Rand. Polizeihauptmeister Hubatsch knurrt. „In die verdammten Kästchen hier reinzukommen, das schafft niemand mit diesen Maschinen.“ Finster fixiert er die gelbe „Verkehrsunfallanzeige“, die er in die Schreibmaschine Marke „Optima“ gespannt hat.

20.00 Uhr. Die Spätschicht auf dem Polizeirevier von Weißwasser geht zu Ende. Männer laufen durch das Dienstzimmer, öffnen ihre Spinde, entledigen sich der Uniformhosen. Ein Pin-up klebt an der Zimmertür, reckt verblichene, nackte Brüste. Klaus Hubatsch hackt weiter auf der „Optima“.

„Kästchen zielen“ nennen die Polizisten der sächsischen Kleinstadt dieses Spiel. Sozialistische Maschinen tippen enger; mit ihnen einen auf kapitalistische Leerstellen geeichten Vordruck auszufüllen, ist die reinste Treffübung. „Zwei Drittel der Arbeitszeit bleibst du drinnen und schreibst Berichte“, mault Streifenpolizist Hubatsch. 30 Jahre ist er in dem Laden; mehr als handschriftliche Notizen brauchte er früher nicht abzuliefern. „Komm, mach's fertig“, drängelt sein Dienstgruppenführer, „damit muß der Ostpolizist jetzt leben.“

Seit Oktober '91 versuchen die sächsischen Ordnungshüter mit neuen Polizeistrukturen zurechtzukommen: mit veränderten Hierarchien und Zuständigkeitsbereichen, neuen Gesetzen und Rechtsvorschriften, anderen Arbeitsschwerpunkten. Auf „hohe revolutionäre Wachsamkeit und Verschwiegenheit“ wird in den Dienstvorschriften keinen Wert mehr gelegt. Das Paß- und Meldewesen, Justizvollzug und Feuerwehr — früher Teile der Volkspolizei — sind ausgegliedert.

Geblieben sind Schutz- und Kriminalpolizei, wie im Westen. Und wie dort, sind die Beamten ihre eigene Schreibkraft. „Das kann niemand verantworten!“ schimpft der Leiter des Streifendienstes, der fleischige Göthlich. „61.000 Bürger hier im Kreis Weißwasser wollen Sicherheit. Aber wir kommen nicht mehr raus auf die Straße.“

20.30 Uhr. Im Aufenthaltsraum sitzen die KollegInnen von der Nachtschicht. Abgestandene Gesichter im Neonlicht. Fünf Männer, eine Frau; eine von neunen unter 72 Männern. Die sechs trinken Kaffee, warten auf Hauptkommissar Holler und die Diensteinweisung. Es ist ihre dritte Schicht innerhalb von zwei Tagen. Ein brutaler Rhythmus. Noch diese Nacht, dann drei Tage Ruhe. Da kommt der Dienstgruppenleiter, klein, kompakt. Kurz referiert er die letzten Einbrüche, geknackten Kioske, eingeschlagenen Scheiben.

„Zu DDR-Zeiten war's auch ein Krampf“

Die kriminelle Energie der Ostdeutschen ist nach der Wende enorm gestiegen. Bei der Polizei aber hat sich außer den Uniformen nicht viel geändert. Polizeirat Krüger, Revierchef in Weißwasser, träumt schon gar nicht von großartiger technischer Ausrüstung — nur vom Notwendigsten. Von Anzeigenformularen zum Beispiel; auch Schreibpapier und Kugelschreiber sind eine Rarität. „Beantragen können wir bei unserer Polizeidirektion in Görlitz alles“, spottet Klaus Lange, Leiter der Kriminalpolizeiaußenstelle, „nur bekommen tun wir nichts.“

Die Fahndung nach dem Schuldigen verläuft sich im bürokratischen Dschungel. Es habe wohl einen kleinen Engpaß mit Anzeigenformularen gegeben, heißt es in der Görlitzer Polizeidirektion. Und bei der übergeordneten Dienststelle in der Landeshauptstadt Dresden verweist man verschämt auf finanzielle Probleme.

Zum Ausgleich kriegt das Revier dann mal zwei Fernseher, obwohl es nur einen braucht. Dafür fehlen der Videorecorder und Fotoapparate; Tat- und Unfallorte knipsen die Beamten mit ihren privaten Kameras. Vor zwei Wochen stand plötzlich ein neuer Passat vor der Tür, leistete dem roten Lada, dem Wartburg und dem Barkass, dem alten Kahn, Gesellschaft. Wunderbare Autovermehrung, denn angekündigt hatte das Präsent niemand. „Zu DDR-Zeiten war's auch ein Krampf“, schimpft Göthlich, „aber jetzt ist es schlimmer.“

20.40 Uhr. Klaus Holler verteilt die Dienste. In einer Laubensiedlung am Stadtrand sind mehrere Häuschen aufgebrochen worden. Ein Mann soll dort in Zivil Wache schieben. „Peter, du machst Unfälle. Kriegst Petra mit an Bord.“ Polizeiobermeister Peter Szemendera bleckt die Zähne: „Na, das wird 'ne Nacht.“ Die Männer am Tisch grunzen. Hauptwachtmeister Petra Plaschka ist 34, hat den kleinsten Dienstgrad und den größten Gleichmut. „Das ist deren Art Humor“, kommentiert sie die Sprüche der Männer in der fahlen Uniform.

Sie ist erst nach der Wende zu ihnen gestoßen; aber fast scheint es, als wäre ihr der Dienst bei einem allgegenwärtigen Kontrollorgan wie der Vopo lieber gewesen. Da konnte man als Exekutor von Staat und Partei eingreifen, wenn sich jemand herumtrieb, nicht arbeitete, obdachlos war. „Da greift man so einen Menschen auf, behält ihn kurz auf der Wache und schickt ihn wieder raus in die Kälte. Wäre es nicht besser, ihn irgendwo einzuweisen, ein bißchen gezwungenermaßen?“

Auch ihren Kollegen ist der demokratische Rechtsstaat zu lax. „Wir begreifen nicht“, erklärt Kommissar Lange, „daß man mit Gewalttätern so großzügig ist. Wenn in der DDR jemand Schaufensterscheiben eingeschlagen hat, stand er am nächsten Tag vor Gericht. Heute wird er vernommen und geht wieder.“ Revierleiter Krüger, ehemals Major der Deutschen Volkspolizei und Offizier bis in die Knochen, fürchtet eine Demoralisierung seiner Mannen. „Ich kann es meinen Beamten doch nicht zumuten“, meint der Polizeirat, „erst draußen den Kopf hinzuhalten und dann zwei Stunden später denselben Leuten auf der Straße gegenüberzustehen.“

„Wir persönlich haben uns nichts vorzuwerfen“

21.00 Uhr. Petra Plaschka füllt die Kaffeemaschine. Zwei Kollegen sind auf Streife, die anderen tippen Berichte. Holler verschwindet in die Einsatzzentrale. Vor ihm ein halbrundes Pult voller Armaturen, mehrere Telefone, eine CB-Funk- Anlage; über ihm eine große Leuchttafel. Alles still. „Wenn's in der Nacht so verdächtig ruhig ist“, murmelt der Hauptkommissar, „erschrickst du morgens, was wieder alles passiert ist.“

22.05 Uhr. Ein Telefon klingelt. „Wissen Sie, wie lange in der Gaststätte vom Eisstadion noch gefeiert wird?“ Holler weiß von nichts. 22.25 Uhr. Holler spitzt die Ohren, springt vom Stuhl, geht rüber zum offenen Fenster, stürzt zurück zum Pult: „Drossel 21, kommen!“ ruft er die Streife. „Fahrt sofort zum Supermarkt in der Hermersdorfer Straße. Ich höre die Alarmanlage heulen!“ 22.35 Uhr. Ein Feld auf der Leuchttafel blinkt, ein Brummen wie von tausend Hornissen, dann die Stimme des Streifenbeamten: „Hier Drossel 21. Wir brauchen dringend die 41 in die Hermersdorfer Straße. Einbruch. Die Täter sind vielleicht noch drinnen.“ Holler schickt den Barkass mit Plaschka und Szemendera los.

Die Einsatzbereitschaft seiner Leute, lobt Revierleiter Krüger, sei hoch. Vor allem, seit der mittlere Dienst verbeamtet wurde. Frustriert sind die Bediensteten im höheren und gehobenen Dienst, denn ihre Zukunft ist noch unklar. Allesamt waren sie Offiziere der Deutschen Volkspolizei, allesamt in der Partei. Seit Juli '91 sollten sie Beamte sein, aber die Überprüfungen laufen noch. Nur die Hälfte aller Vopos ist heute noch im Polizeidienst; viele wurden entlassen, andere gingen freiwillig. Ihre Rolle als Machterhaltungsinstrument der SED und ihre Nähe zu der anderen „Firma“ weisen alle zurück. Auch in Weißwasser. „Jeder Abschnittsbevollmächtigte“, erzählt Krüger über die bei der Polizei angestellten Bürgerausforscher, „mußte sein Urteil abgeben, wenn jemand reisen wollte. Hätte er was Falsches geschrieben, wäre sein Kopf gerollt. Aber das hat nicht die Polizei entschieden.“ „Wir persönlich haben uns nichts vorzuwerfen“, meint auch Kollege Lange. Sogar „doppelt verarscht“, fühlen sich die Polizeihäuptlinge von Weißwasser vom früheren System, denn sie hätten „überhaupt keine Vorteile gehabt“, sondern „nur fürs Bewußtsein“ mehr als der Normalbürger gelitten. Selbst die friedliche Revolution versucht Krüger zu vereinnahmen: „Die Polizei hätte nie auf die eigene Bevölkerung geschossen“, verkündet er. Doch leider ist im Zusammenhang der Wendedemonstrationen nicht ein Fall bekannt, wo ein Volkspolizist den Gehorsam verweigert hätte.

23.00 Uhr. „Die Täter sind flüchtig“, meldet ein Beamter aus der Hermersdorfer Straße. 23.20 Uhr. Wieder eine Beschwerde wegen des Eisstadions. „Drossel 21“, ruft Holler, „seht doch mal, wer da Krach im Stadion macht. Ein Anwohner will 'ne Bombe reinschmeißen.“

Am nächsten Morgen vermerkt das Revierprotokoll allein bei Diebstählen: einen gestohlenen PKW, einen schweren Diebstahl, vier Fahrradklaus. Was hatte der Westberater aus Baden-Würtemberg den Ostkollegen zur Vorbeugung geraten? „Sagen Sie den Leuten, sie sollen ihr Eigentum selbst schützen.“