DEBATTE
: Afrikanische Selbstzweifel

■ Die konträren Erwartungen von Gesellschaft und Weltgemeinschaft drohen die Staaten Schwarzafrikas in eine Legitimationskrise zu stürzen

Der weltweite Konsens darüber, daß Demokratie die beste Regierungsform ist, hat Afrika eine überraschende Entwicklung beschert. Nicht mehr nur einzelne Staatsoberhäupter sehen sich in ihrer Legitimität angezweifelt, sondern ganze Staaten. Die Infragestellung von Herrschaft beschränkt sich nicht auf die Personen, die sie ausüben. Es ist die Struktur des Staates insgesamt, die sich in der Defensive befindet.

In Somalia oder Äthiopien — und zunehmend auch in anderen Ländern wie Zaire — ist die Frage nicht mehr nur: wer soll regieren, sondern: soll dieser Staat in seiner bisherigen Form weiterbestehen? Weniger konfliktschürend, doch genauso fundamental, wird in vielen kleineren Ländern die Frage gestellt: Welches Recht hat der Staat, die moralische Führung der Gesellschaft zu übernehmen?

„Präventive Diplomatie“

Die Staatschefs Afrikas sind sich dieser Situation bewußt. Auf dem letzte Woche zu Ende gegangenen Staatengipfel der OAU in Dakar war nicht der Aufbau eigener Projekte das Hauptthema, sondern der Umgang mit Entwicklungen, deren Kurs andere bestimmen. „Präventive Diplomatie“ lautete das verräterische Leitmotiv des Gastgebers Senegal: Die Regierungen sollen sich in die Lage versetzen, gesellschaftliche Entwicklungen zu antizipieren und sich gegen ihre Folgen zu wappnen. Ausgerechnet Ibrahim Babangida, als Präsident von Nigeria einer der mächtigsten Männer des Kontinents, verweist auf die Grenzen von Staats- und Verfassungsordnungen“ und warnt: „Staaten können sich nicht gegen die gesellschaftlichen Interessen wenden, denen sie ihre Geburt verdanken.“

Die Ursachen dieses Selbstzweifels sind zweifach. Zum einen, das ist bekannt, ist die große Zeit der afrikanischen Führer vorbei. Ihr Scheitern — seit 1960 sind politische Unfreiheit und soziale Ungleichheit in Afrika gewachsen — hat eine Renaissance der Zivilgesellschaft eingeleitet, welche in einigen Ländern zum Sturz der Diktatoren, in anderen zu politischen Öffnungsprozessen und in dritten zum Bürgerkrieg führt.

Weniger beachtet, aber ebenso wichtig ist der weltweite Siegeszug des Neoliberalismus mit all seinen lähmenden Auswirkungen auf Selbstvertrauen und Handlungsfähigkeit von Regierungen. Einem Diskurs, der Staaten ökonomische Vernunft abspricht und die Entfesselung von Einzelinteressen auf dem Weltmarkt für die Triebkraft des Fortschritts hält, haben Regierungen der Dritten Welt — und insbesondere Afrikas — wenig entgegenzusetzen.

Die beiden Prozesse hängen eng zusammen. Keine Regierung der Welt kann sich auf die Dauer erlauben, ihren eigenen Bürgern weniger Informationen und Mitspracherechte zu gewähren als internationalen Finanzorganisationen. Wenn ein Staat gezwungen ist, seine eigenen Entscheidungen sowohl gegenüber der Weltgemeinschaft wie auch der eigenen Bevölkerung immer wieder neu zu begründen, entsteht ein neuer demokratischer Diskussionsrahmen; sowohl national wie international gerät die Frage nach der Notwendigkeit staatlichen Handelns in den Mittelpunkt der politischen Debatte.

So entsteht der Wunsch nach dem, was man den „gesellschaftlich notwendigen Staat“ nennen könnte: ein Staat, der seine Legitimation nicht aus sich selbst herzuleiten versucht, sondern den die Gesellschaft mit der Ausführung bestimmter, genau definierter Aufgaben beauftragt — sei es die Entwicklung rechtsstaatlicher Garantien oder die Bereitstellung von Grundschulunterricht.

In der Praxis führt dieses Modell oft zu erbitterten Machtkämpfen. Der Staat, mit dem ja eine Menge persönlicher Schicksale verbunden sind, muß sich ständig gegenüber dem Rest der Gesellschaft behaupten und wird damit zu einem Interessenvertreter unter vielen. In immer mehr afrikanischen Ländern gibt es heute mehrere konkurrierende Institutionen, die jeweils mit eigenen, einander ausschließenden Begründungen den Titel „Regierung“ beanspruchen. Dies gilt für Somalia, Liberia, Togo und Madagaskar, demnächst vielleicht auch für Äthiopien, Zaire, Sudan oder Malawi. Selbst Südafrika ist nicht allzuweit von einem solchen Szenario entfernt.

Die Gefahr der „Somalisierung“

Ob sich dies in der gegenseitigen Ignorierung der verschiedenen Fraktionen äußert, im politischen Streit oder im offenen Krieg — das zentrale Problem ist das der gesellschaftlichen Konfliktregelung. Wenn der Staat als oberster Integrator ausfällt, obliegt der Umgang mit Interessenkollisionen den streitenden Parteien direkt. Der Zerfall Somalias kann als warnendes Beispiel für das Scheitern einer solchen Entstaatlichung stehen. Die Gefahr einer „Somalisierung“ ist aber auch anderswo groß.

Etwas anders liegen die Risiken in Ländern, deren Staaten sich in der Diskussion um den „gesellschaftlich notwendigen Staat“ bewähren konnten. Wenn die Notwendigkeit, sozialen Konflikten vorzubeugen und das Land als politisch handlungsfähige Einheit zu bewahren, allseits akzeptiert wird, kann demokratischer Wandel den Staat auch stärken. Am Ende steht dann ein technokratisches Entwicklungsmodell, das den Widerstreit zwischen Personen und Parteien erlaubt und sogar fördert. Eine grundlegende Erörterung von Handlungsalternativen jedoch unter Hinweis auf die Zwänge des Weltmarktes eher verbietet.

Der Imperativ des Wirtschaftswachstums

Diesem Weg folgen vor allem die „neuen Demokratien“ Afrikas — wie Benin, Sambia und Mali — und auch einige Länder, deren Regierungen sich ohnehin auf „Demokratie“ berufen, wie Senegal. Sie alle verweisen auf den Imperativ des Wirtschaftswachstums, um den Staat als Garant nationaler Disziplin und Moral zu legitimieren.

Inhärent in diesem Entwicklungsmodell ist jedoch ein Widerspruch, den es selbst nicht lösen kann. Es beruft sich auf internationale Zwänge, die wiederum einer Weltsicht entsprechen, in der für staatliche Lenkung kein Platz ist. Somit besteht das andauernde Risiko, daß die Demokratie den konträren Erwartungen von Gesellschaft und Weltgemeinschaft zum Opfer fällt und der Staat auf die Rutschbahn einer Delegitimierungsspirale gerät. Dann jedoch wäre eine Wiederholung des demokratischen Experiments unwahrscheinlich. Zu rechnen wäre eher mit einer autoritären Rückentwicklung, um einer „Somalisierung“ zu entgehen.

Afrika, so wird oft gesagt, steht vor der Wahl zwischen dem 20. und dem 19. Jahrhundert. Es kann die aus der Kolonialzeit geerbten Staatsstrukturen bewahren und modernisieren — oder es kann sie zugunsten eines Nebeneinanders unabhängiger, sich selbst vertretender Interessen auflösen. Die Tragödie Somalias läßt zur Zeit den ersten Weg als den sinnvolleren erscheinen. Demokratisch gelingen kann er aber nur, wenn auf internationaler Ebene eine Rehabilitierung des Staates einsetzt, die sich nicht nur in Demokratierhetorik erschöpft. Wer den Staat als ökonomischen Akteur disqualifiziert, darf sich nicht wundern, wenn Menschen auf der Suche nach dem wirtschaftlichen Überleben ihren Staat für überflüssig erachten und ihn über kurz oder lang abschaffen. Dominic Johnson, Dakar