Die Bewegung des Stillstands

■ Der Fahrerstreik zeugt von einer vergessen geglaubten Fähigkeit zur Selbstorganisation

Frankreich, wenige Monate vor dem Euro-Doomsday, dem gänzlich freien Waren- und Personenverkehr. Während Präsident Mitterrand eine Bresche ins umzingelte Sarajevo schlägt, schließen sich zu Hause die letzten Barrikaden auf den Autobahnen; während in Brüssel letzte Hand an die Abschaffung der Handelshemmnisse gelegt wird, müssen Städte wie Caen und Toulouse zwangsbewirtschaftet werden, muß am Pariser Benzindepot Gennevilliers Militär eingesetzt werden, um die Tanklaster zu befreien. Und im Rhônetal blockieren wütende Pfirsichpflanzer sämtliche Hochgeschwindigkeits-Trassen der Eisenbahn — aus Solidarität mit den Truckern, aber auch, weil sie ihr Obst wegen der Blockade nicht mehr loswerden...

Seit einer Woche steht Frankreich still. Die Nation wird auf Kommunalstraßen umgeleitet, und auf den Schautafeln der Nachrichtensendungen schieben schwitzende Moderatoren währenddessen Magnetfiguren herum wie während des Irak-Krieges. Als am Sonntag die Einsatztruppe CRS in Lille auftauchte, wurden Tanklaster mit Hochexplosivem an jedes Ende der Barrikade gefahren: „Wenn sie kommen, geht alles in die Luft und Lille gleich mit“, erklärte ein Brummi-Fahrer der Presse.

Nun hat der Barrikadenbau in Frankreich spätestens seit der Commune eine lange und ruhmreiche Tradition. Immer wenn irgend etwas nicht gut läuft im Lande, wird das durch das Anhäufen von Reifen, Mülltonnen oder 40-Tonnern auf den Kreuzungen auch deutlich gemacht. Dennoch, der Streik der französischen Trucker zeugt von einer erstaunlichen und vergessen geglaubten Fähigkeit zur Selbstorganisation. Die Bewegung entstand aus dem Nichts. Eine Punktwolke von notorischen Individualisten, von maulfaulen und unorganisierten Asphaltcowboys nahm Gestalt an und wurde zur Bewegung — eine Bewegung des Stillstands. Per CB-Funk, Auto-Fax und Raststätten-Telefon wurde die Brummi- Guerilla organisiert. Die Störsender der Polizei blieben erfolglos. An unerwarteten Stellen stieg ein Dutzend Spediteure plötzlich auf die Bremse — und schon staute es sich aufs wunderbarste. Campingtische standen auf der Nationalstraße, Nachtwachen wurden organisiert und ein totales Alkoholverbot erlassen. Die große Demobilisierung.

Schon die Bauern hatten vor vierzehn Tagen eine Blockade der Hauptstadt geplant. Was ihnen mißlang, schafften die Chauffeure. Dank der Größenordnung, zu der die Fuhrunternehmer ihre Gefährte hochgezüchtet haben. Das erleichtert den Barrikadenbau erheblich: In Fos-sur-Mer parkte am Sonntag ein 70-Tonnen-Kranwagen vor dem Ölhafen.

Wie bei den Protesten der Krankenschwestern, der Eisenbahner und Bauern ist die Bewegung den Gewerkschaften völlig entglitten. Überall bildeten sich Bündnisse, die sich bisweilen am nächsten Tag schon wieder in Luft aufgelöst hatten. Der einzige imaginäre Gesprächspartner des Transportministers wurde „Tarzan“, ein pferdeschwänziger Hüne mit der Visage Charles Bukowskis. Die Regierung mußte ihre örtlichen Präfekte losschicken, um zu erfahren, was die Routiers eigentlich wollten. Jede der zehn Hauptbarrikaden ist zum autonomen Verhandlungsort geworden.

Erstaunlicherweise hat sich die Bevölkerung bislang solidarisch gezeigt. An manchen Nationalstraßen wurde den Blockierern Picknick gebracht. Als habe man verstanden, daß es nicht mehr um den Punkte-Lappen geht, daß sich hier nicht die Könige, sondern die Galeerenknechte der Landstraße auf dieselbige setzen. Es sind ebenso unterbezahlte wie gehetzte Kilometerfresser, die nicht einsehen, weshalb allein sie die Leidtragenden der Führerschein-Reform sein sollen. Einer Reform, die von der postindustriellen Gesellschaft aus der Sicht des Konsumenten gestaltet wurde und die Seite der Produktion ausblendete: „Das Schlimme ist die Unfähigkeit des Staates, die soziale Wirklichkeit wahrzunehmen“, erklärte gestern der Soziologe Alain Touraine. „Schon der Begriff ,sozial‘ ist in Frankreich unanständig geworden, eine Terra incognita, die keinen mehr interessiert. Logische Folge: das ,Soziale‘ explodiert und schlägt uns ins Gesicht.“ Und der Staat steht still: Etat de siège — Belagerungszustand. Alexander Smoltczyk